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7.22. Wer war schuld? Zur Rolle der Juden im Passionsspiel (Franz V. Spechtler) - Langtext

Es ist für den heutigen Leser von Passionsspielen kaum verständlich, welcher Judenhass aus den Texten spricht und welche Judenfiguren dem Spielpublikum des 14. bis 17. Jahrhunderts auf der Bühne vorgestellt wurden. Sie sind in den meisten Spielen jene, die Jesus quälen, schlagen und ans Kreuz nageln, und nicht die Soldaten der Römer.[934] In dieser Tradition steht auch das Salzburger Passionsspiel „Christus Patiens” aus der Zeit um 1600,[935] in dem der Teufel selbst als Jude verkleidet beim Verrat des Judas auftritt. Die Juden tragen Namen wie Rabsaces (Teufel), Moyses, Soleph, Jared, Joab usw. und tun sich bei der Misshandlung Jesu besonders hervor. Amri: „Ey brueder tue noch fester binden”; Doeg: „Schlag drauf das im die Rippen krachen.” Ähnliche Gespräche führen sie, wenn sie Jesus an das auf dem Boden liegende Kreuz nageln. Isobeth: „Schlag drauf, Amri, das sie adern krachen, wie bist du behendt in diesen sachen.” (Text leicht vereinfacht). Diese Szenen werden in anderen Spielen bis ins Unerträgliche ausgeweitet. Dass diese Texttradition bis in unsere Zeit reicht, beweisen die Passionsspiele von Oberammergau, die im Jahr 2000 unter neuer Leitung von den krassen antijüdischen Elementen befreit werden mussten.[936] Was war hier im Laufe der Jahrhunderte geschehen? Brauchte man einen Sündenbock in Form eines ganzen Volkes, das für das Leiden und den Tod Jesu schuld gewesen sein soll? Ein Blick zurück soll diese Entwicklung erhellen.

Es ist bekannt, dass die Menschen Jahrhunderte lang dazu neigten und vielleicht heute noch gelegentlich dazu neigen, im Nachhinein für schreckliche Ereignisse einen so genannten „Sündenbock” zu suchen. „Irgendjemand muss ja daran schuld sein”, könnte das Motto heißen. Doch der „Sündenbock” als Begriff ist keine Erfindung unserer Zeit, sondern bezeichnet ein Ritual, das im dritten Buch der Bibel, Leviticus 16, 7 –10 und 21–25, überliefert ist. Dort heißt es vom Hohenpriester Aaron, dem Bruder des Mose: „Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Verschuldungen der Israeliten und alle Übertretungen, die sie irgend begangen haben, bekennen, sie auf den Kopf des Bockes übertragen und ihn durch einen bereit stehenden Mann in die Wüste schicken. So soll der Bock alle ihre Verschuldungen auf sich in eine abgelegene Gegend tragen. In die Wüste lasse man den Bock laufen.” (Lev. 16, 21–22)

Im Neuen Testament nun stehen der „gutmütige” Pilatus und das Volk der Juden gegenüber. Lukas 23, 13: „Pilatus aber rief die Hohenpriester und die Obersten und das ganze Volk zusammen” und sagt ihnen, dass er an Jesus keine Schuld gefunden hätte. Dann sagt Lukas von den Juden 23, 23: „Sie aber setzten ihm mit lautem Geschrei zu und verlangten, dass er gekreuzigt werde.” Daraufhin verurteilt ihn Pilatus zum Kreuzestod. Neben diesem „Sündenbock” des jüdischen Volkes gibt es aber noch einen Einzelnen als Sündenbock aus der Reihe der Jünger Jesu: Judas, der nach Mt 27, 3–10 (nicht bei den anderen Evangelisten, nur noch in Apg 1, 15–20) seine Verrätertat bereut und sich erhängt haben soll. Die Schuld am Tod Jesu wird also einerseits auf das ganze Volk Israel (was wenig wahrscheinlich war), andererseits auf den Verräter Judas konzentriert, als ob die Besatzungsmacht der Römer den Rabbi Jesus nicht allein finden hätten können. Auf jeden Fall aber wird Judas in den weiteren Jahrhunderten zum Zerrbild des Juden schlechthin. „In der gegenwärtigen Forschung hat die Frage, ob es sich bei den bisher genannten judenfeindlichen Formulierungen im Neuen Testament um Antijudaismen handelt oder nur um damals übliche, lokal bedingte Polemik, noch keine endgültige Antwort gefunden.”[937]

Auf jeden Fall aber können wir heute sagen, dass die Figur des „gutmütigen” Pilatus, der Jesus zunächst gar nicht verurteilen wollte, nicht den historischen Tatsachen entspricht. Es scheint so, dass das gesamte Geschehen um das Leiden und den Kreuzestod Jesu aus „römischer Sicht” des späten ersten Jahrhunderts geschildert worden sei. Wie nämlich schon Flavius Josephus berichtet, ist Pilatus im Jahr 26 n.Chr. in die als schwierig bekannte Provinz Judäa geschickt worden und hat dort mit äußerster Grausamkeit gegen das jüdische Volk gewütet, zuletzt 36 n.Chr., weswegen er auch abgesetzt wurde.[938] Es war übrigens unter Pilatus durchaus üblich, einige Juden zu Sabbateingang (Freitag abends) zu kreuzigen. Diese Art zu töten war übrigens nur für besonders üble Verbrecher oder für „aufständische Regimegegner” vorgesehen, d.h. für die sich ständig gegen die römische Besatzungsmacht wehrenden Juden als Provokation zu Sabbateingang.

Auf Grund der Überlieferung der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts (70 n.Chr. hatten die Römer den Tempel zerstört) und des beginnenden zweiten Jahrhunderts entstand in der jungen „Kirche” der Begriff von den Juden als den „Gottesmördern”. Dies ist zum ersten Mal beim Bischof Melito von Sardes in Kleinasien belegt: „Gott ist getötet, der König Israels ist durch Israels Rechte beseitigt worden”.[939] Und im 3. und 4. Jahrhundert setzen dies die Kirchenväter fort. Die Tötung des Messias durch die Juden war für sie der Höhepunkt des Abfalls der Juden von Gott. Die Traktate „Contra Judaeos” ziehen sich durch das ganze Mittelalter. Chrysostomus hatte es so auf den Punkt gebracht in seinem Traktat „Adversus Judaeos”: „Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und keine Entschuldigung.”[940]

Nach den zahlreichen Christenverfolgungen bis Diokletian um 300 erhob Kaiser Konstantin (325–337) das Christentum zur Staatsreligion und legitimierte die Verfolgung von Heiden und Juden. Erst die judenfreundliche Politik Karls des Großen änderte dies. Dieser war von der hohen arabischen und jüdischen Kultur in Spanien, das 711 von den Arabern erobert worden war, beeindruckt. Denn es ist ja wenig bekannt, dass die griechische Philosophie – besonders des Aristoteles – dort in den hohen Schulen von Toledo, Cordoba und Sevilla aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt und so an Westeuropa vermittelt wurde. Große Gelehrte wie Papst Silvester II., Albertus Magnus, Duns Scotus, Thomas von Aquin und andere haben dort in einem Klima der Toleranz und hohen Gelehrtheit von Juden, Christen und Arabern ihre Ausbildung erhalten.

Dieses Klima endet im 11. Jahrhundert mit der „Wahnidee” der Kreuzzüge zur Eroberung des Heiligen Landes, wobei nur der erste Kreuzzug 1096 –99 zum militärischen „Erfolg” geführt hat, während die weiteren in Katastrophen endeten. Der Kreuzzugsprediger für den ersten Kreuzzug, Gottfried von Bouillon, schwor, „das Blut Christi an Israel zu rächen und auch nicht einen Juden am Leben zu lassen“.[941] Während um 1200 der junge Papst Innozenz III. (1198–1216) noch Toleranz übte, verschärfte er bereits 1205 seine Haltung: „Die Juden sind zu ewiger Sklaverei verurteilt, da sie den Herrn gekreuzigt haben.” Das vierte Laterankonzil fasste dann einen entsprechenden Beschluss. Im Gegensatz zum Papst stand der gelehrte Stauferkaiser Friedrich II. (gest. 1250), der die Juden unter seinen Schutz stellte. Ähnliches wissen wir auch vom letzten Babenbergerherzog Friedrich II (gest. 1246). Dann aber scheint diese Toleranz in Europa zu Ende zu gehen.[942]

Die Juden wurden von allen Handwerksberufen und von der Landwirtschaft ausgeschlossen und durften auch kein Land kaufen. Lediglich die den Christen verbotenen Bankgeschäfte waren ihnen erlaubt sowie Teile des Handels. In der bildenden Kunst sehen wir die Statuen Ekklesia und Synagoge als gegensätzliche Frauen. Der Judenhass steigerte sich im 14. Jahrhundert der Katastrophen, wobei für die europäische Pest 1348/49 die Juden als Sündenböcke herhalten mussten und die grausamen Verfolgungen erste Höhepunkte erreichten. Es wurden ihnen auch Hostienschändungen und Ritualmorde angedichtet. Das Konzil von Basel hat den Juden sogar vom Universitätsstudium ausgeschlossen. Dass Jesus selbst ein gläubiger Jude, ja sogar ein Rabbi gewesen ist, wird auch von den Theologen verschwiegen. So wurde seit den ersten Jahrhunderten n.Chr. durch das gesamte Mittelalter jener Boden bereitet, auf dem dann in der Neuzeit und vor allem im 20. Jahrhundert die Judenvernichtungen aufbauen konnten.



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