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10.4. „Wohin sollen wir gehen?” – Menschen auf der Suche (Josef P. Mautner) - Langtext

Zu jeder Zeit und an allen Orten sind Menschen auf der Suche. Suche scheint eine Bewegung zu sein, die zu den Grundformen menschlicher Existenz gehört. Die Vätergeschichte des Ersten Testaments beginnt mit einem Aufbruch: „Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.” (Genesis 12, 1) Das Leben Abrams, der Vaterfigur dreier Weltreligionen,[3248] ist geprägt von der Bewegung des Suchens. Suche – ein Archetyp, der offenbar über die sozialen und kulturellen Veränderungen in Zeit und Raum hinausgeht? Aber was bleibt an Erkenntnisgewinn, wenn ich beim typologischen Denken bleibe, wenn ich darin verharre, eine abstrakte Idee, einen Archetypus zu reflektieren? Erkennen bedeutet auch, sich in konkrete und widersprüchliche Erfahrungen hineinzubegeben und bei ihnen zu verweilen, ohne sie sofort in einer abstrakten Synthese aufheben zu wollen. Also gehe ich in diesem Essay nicht den naheliegend gewohnten Weg, der vom Konkreten zum Abstraktum als Ziel führt, sondern den Weg vom Abstrakten, von der Suche, zu den vielen unterschiedlichen Suchbewegungen, die verschiedenste Menschen von Salzburg weg oder nach Salzburg her geführt haben. Diese Suchbewegungen sind in ihrer Richtung und in ihrer emotionalen Qualität nicht immer eindeutig. Manche Suche geht auf ein mehr oder weniger ersehntes Ziel zu, manche endet im gefürchteten Niemandsland. Die Suche führt von einem Ausgangspunkt fort, der für die Suchenden Himmel oder Hölle, Heimat oder Gefängnis gewesen sein mag. Viele Suchbewegungen bleiben zwischen diesen Polen ambivalent, schwanken zwischen Reise und Flucht.

Salzburg, also ein bestimmtes Land, einen feststehenden Ort, zum Zentrum dieser Reflexion über Bewegungen der Suche zu machen, scheint in sich widersprüchlich. Ist es auch. Aber den Ort Salzburg zum Zentrum dieser Überlegungen zu machen, soll als kurzes Innehalten in der Bewegung verstanden werden, nicht mehr. Kein Stillstellen der lebenslangen Bewegungen, der Prozesse, die alle Menschen durchlaufen haben, von denen hier erzählt wird. Kein Versuch, ihrer habhaft zu werden, mir die Suche anzueignen. Unter dem Projekttitel „Bräuche im Salzburger Land” über Prozesse des Suchens nachzudenken, ist ein weiterer Widerspruch. Denn die Suche ist kein Brauch, sie folgt keinen festgelegten Riten, ist nicht in die immer wiederkehrende Folge eines Jahreskreises eingebunden. Sie passt nicht in das Sozialgefüge geschlossener Gesellschaften, die agrarisch, ständisch oder religiös gebunden sind. Wenn überhaupt, dann erscheint sie dort als Episode im festgelegten Jahresfestkreis oder im ritualisierten Lebenslauf, zum Beispiel als Initiationsweg, der wieder zurück in den Schoß der Familie, der Gemeinschaft führt.

Dennoch hat es immer Suchende gegeben. Ihre Lebensentwürfe waren Antithesen zum Normleben in einer traditionalen Gesellschaft. Angstfiguren und Feindbilder, von denen die Großmutter noch erzählte: Wandersburschen, fahrende Musikanten, Hausierer, Zigeuner, Landflüchtige, ... Auch in Sagen und Bräuchen hat diese andere Lebensform Motive herausgebildet und Erzählungen produziert. Ich erwähne nur die Sage vom Teufelsgeiger im Umfeld der Hochkönigsagen und im besondern einen der wichtigsten Weihnachtsbräuche in Salzburg: die Herbergssuche, die fester Bestandteil aller Advent- und Krippenspiele, der Adventdichtung und der Lieder ist.[3249] Josef und Maria, das „Heilige Paar”, gehen in Bethlehem als Fremde von Tür zu Tür, bitten um eine Herberge für die Nacht und werden überall abgewiesen, um schließlich in einem Stall Unterschlupf zu finden. In einer der „bodenständigsten” und von Fremdenangst geprägten Kulturen Mitteleuropas wurde und wird Jahr für Jahr vor Weihnachten gesungen:[3250]

„O lieber Hauswirt mein, einmal erwacht!
Wir bitten inniglich dieses betracht:
Josef, Maria rein, bitten um Herberg heint,
o lieber Hauswirt mein, laß uns doch ein!“

Hier wird im symbolischen Universum einer geschlossenen Kultur ein Rest an Erinnerung bewahrt, dass ihr Glaube – so inkulturiert er im Brauchtum erscheinen mag – ihr fremd bleibt. Denn die jüdisch-christliche Tradition ist ererbt von einer Kultur, die offen war, geschichtlich denkend, nomadisch und mit dem Exil vertraut. Und das Zentralsubjekt des christlichen Glaubens, Jesus Christus, war ein Suchender, ein Mensch, der sein Leben als Gegenentwurf zu jeder stabilitas, zu allen geschlossenen Sozialformen führte. An seinem Anfang, so die Kindheitserzählungen, standen der Stall und die Flucht; also Jesus, einer von denen ohne Wohnsitz und ohne Heimat, auf der Suche, auf der Flucht.[3251]

Lebensformen der Suche sind Antithesen zu geschlossenen Sozialstrukturen, weil sie den geschichtlichen Prozess mit all seinen Ambivalenzen, Veränderungen, Konflikten und Brechungen nicht in immer wiederkehrende Rituale oder kreisförmige Zeitordnungen (Jahreszeiten, Jahreskreise, „immerwährende Kalender” etc.) bannen, sondern ihn mitgehen. Individuelle biografische Verläufe werden in der Lebensform der Suche abbildend, aber auch verändernd mitvollzogen: Menschen begeben sich auf die Suche nach ihrer Identität, nach einer sie erfüllenden Arbeit, nach den wesentlichen (Liebes-)Beziehungen und Bindungen. Aber auch gesellschaftliche Prozesse können in Form der Suche dargestellt werden, etwa die soziale und kulturelle Identitätsfindung Deutschlands nach der Wiedervereinigung. Gleichzeitig haben historische Brüche und Katastrophen Form und Richtung des individuellen Suchens radikal verändert. Seit der Shoah oder – in anderer Weise – nach dem kulturellen Bewusstseinswandel der Postmoderne steht die zuvor charakterisierte Dichotomie zwischen geschlossenen, kreisförmigen und offenen, linearen Gesellschaftsformen in Frage. Die Shoah hat alle ordnenden Geschichtskonstruktionen – seien sie linear oder kreisförmig, in sich geschlossen oder in einer Richtung offen – radikal dekonstruiert. Nachdem die Vernichtung eines willkürlich definierten Teiles der Menschheit im Zentrum Europas möglich und wirklich geworden ist, scheint jedes sinngerichtete Denken von Geschichte obsolet. Gebrochenheit durch negative Dialektik und universale Ambivalenz sind jene Figuren, in denen nach der Shoah Geschichte gedacht wird, und Sinn ist in ihnen zu einer vorläufigen, oberflächlichen Kategorie geworden.[3252]

Die Shoah hat völlig neue Suchbewegungen in Gang gebracht – auch und gerade von Salzburg weg und auf Salzburg zu. Denn – ob wir es wahr haben wollen oder nicht - Österreich (und mit ihm Salzburg) war eines der Zentren nationalsozialistischer Ideologie und Politik. Verschiedene Philosophien der „Postmoderne” haben versucht, diese Konsequenz der Shoah zu Ende zu denken, indem sie die „großen Erzählungen” der Moderne, also die universalen Geschichtskonstruktionen, verabschiedeten. Damit ist die Suche in all ihren Formen nicht mehr Antithese zur gesellschaftlichen Norm. Die Auflösung aller eindeutigen Ordnungskategorien und geschlossen strukturierten Sozialformen hat die Suche scheinbar zu einer allgemeinen Form gesellschaftlicher Existenz werden lassen. In der postmodernen Gesellschaft sind nicht mehr nur die Außenseiter auf der Suche, sondern alle. Mobilität, Bewegung, Auflösung bestehender Bindungen, flexible Zugehörigkeiten sind zur Sozialform der gesellschaftlichen Kernschichten geworden, die auch tief in die Identität der Vielen eindringt. Die Suche nach der „globalen Existenz” ist kein Thema einer kleinen Avantgarde mehr, sondern zentrale Frage einer Mehrheit in den postindustriellen Gesellschaften der späten Moderne.

Im Folgenden werde ich von verschiedenen Suchbewegungen erzählen, die in unterschiedlicher Weise auf Salzburg als geografischen, sozialen und kulturellen Ort bezogen sind. Ich hoffe, diese Reflexion lädt dazu ein, Salzburg und die Menschen, die hier leben, etwas genauer und liebevoller zu betrachten, als es durch die Brille des Postkartenklischees geschieht. Die Erzählung ist in drei Schritte gegliedert, die zum abschließenden Thema führen. Die Auswahl der Menschen und ihrer Geschichten ist subjektiv, von meiner persönlichen Wahrnehmung geprägt. Sie kann aber dennoch einige Suchbewegungen nachvollziehbar machen und zu einem genauen Blick auf Stadt und Land Salzburg führen. Die drei Schritte und das abschließende Thema sind: „Suche nach einem Zentrum”, „Suche nach Identität”, „Suche nach Heimat” und „Ein Ende der Suche?”.

  1. Salzburg lag zwar immer nahe bei einigen Zentren europäischer Macht und Kultur wie Wien, Prag oder Rom, war aber nie selber Zentrum. Gerade solche Provinzorte waren und sind in der mythischen Phantasie immer wieder das Ziel von Menschen, die auf der Suche sind nach einer verborgenen Mitte der Welt, nach einem immateriellen Zentrum, das sich in Ruhe und Abgeschiedenheit eher finden lässt als im Trubel einer Metropole.

    Suche nach einem Zentrum – Bogdan Bogdanovic

    In ganz eigener Weise verwirklichte der Belgrader Architekt und Schriftsteller Bogdan Bogdanovic die Suche nach der Mitte der Welt, als er in den Nachkriegsjahren, noch während seiner Studienzeit, auf einer Reise in Salzburg Station machte: Vor mehreren Jahren holte ich Bogdan Bogdanovic und seine Frau in ihrem Hotel in der Kaigasse ab, um mit ihnen in die Wiener-Philharmoniker-Gasse zur Studentengemeinde zu gehen. Dabei spazierten wir über den Residenzplatz am Dom vorbei und überquerten anschließend den Domplatz. Auf diesem Weg erzählte Bogdanovic eine bewegende Geschichte, die diesem Ort für mich plötzlich mythische Qualität gab. Bogdan Bogdanovic – im Jahre 1922 in Belgrad geboren – ist Architekt und Schriftsteller, ein unermüdlich suchender Intellektueller, der den Dingen, auch den banalsten der Alltagswelt, auf den Grund gehen möchte.[3253] Mit seiner Vorliebe für alchemistische Denkbewegungen und eine „Philosophie der Architektur”, die quer zu jedem modernistischen Mainstream (sei er nun kapitalistisch oder realsozialistisch gefärbt) liegt, weckt Bogdanovic Assoziationen zum wandernden Humanisten Paracelsus.

    Bogdan Bogdanovic lehrte an der Universität Belgrad und war vier Jahre lang (1982–1986) Bürgermeister seiner Heimatstadt. Er ist der Architekt der legendären „Blume aus Beton”, des Denkmals für das ehemalige Konzentrationslager Jasenovac. Bereits damals erlebte Bogdanovic den Konflikt zwischen Kunst und Macht im Konflikt um die Deutung der jugoslawischen Geschichte. Als die „Patrioten”, wie er die Erfüllungsgehilfen von Milosevic' Diktatur selber ironisch nennt, seine „Dorfschule für die Philosophie der Architektur” in der Nähe von Belgrad verwüsteten, trat dieser Konflikt in eine neue Phase.[3254] Nach dem Erscheinen seines offenen Briefes an Milosevic im Jahr 1987, der Veröffentlichung seines Buches „Mrtvouzice” (1988) und einigen scharfen Interviews gegen den Krieg begann eine Einschüchterungs- und Verleumdungskampagne gegen Bogdanovic: Observierung, Drohanrufe, Wandschmierereien mit Lynchaufforderungen, Paramilitärs, die seine Wohnung zu stürmen versuchten etc. Am Ende dieser Kampagne steht das Exil: Seit 1993 lebt Bogdan Bogdanovic in Wien.

    Doch kehren wir zu jener Geschichte zurück, die Bogdanovic ein halbes Jahrhundert später auf einem Spaziergang durch Salzburg erzählt. Auf meine Bitte hin hat er sie in einem Essay niedergeschrieben.[3255] Bogdan Bogdanovic befand sich in den Nachkriegsjahren, noch während seiner Studienzeit, auf einer Reise, als er zum ersten Mal in Salzburg Station machte. Er übernachtete damals am Bahnhof und begab sich am Morgen zu Fuß in die Stadt: „Es war Ende Oktober, und meine Schuhe ließen Wasser durch. Trotzdem gelangte ich in allerbester Stimmung zur Stirnseite des Salzburger Domes.”[3256] Er umrundete mehrere Male den Dom in einer Kreisbewegung von links nach rechts, wobei er alle drei Plätze sowie die schmalen Durchgänge, die sie verbinden, durchquerte. Ein alchemistisches Schlüsselerlebnis, wie er sich später erinnert: Bogdanovic versteht erst im Nachhinein, dass er „eine Umlaufbahn übereinstimmend mit jener der Sonne gewählt hatte. (...) Heute frage ich mich, ob mich diese schlaue Inszenierung der alten Baumeister veranlasst hat, das monumentale Bauwerk immer auf die gleiche Weise zu umkreisen.”[3257]

    Seine Rundwanderung um den Salzburger Dom sieht er im nachhinein als „circulatio”, als symbolisches Umkreisen des großen Geheimnisses. Die Alchemisten begriffen die Welt in einer dreigliedrigen Klassifikation, und vor diesem Hintergrund ist der Dom mit seinen Plätzen für Bogdanovic ein Abbild der Welt, in deren Zentrum das Gotteshaus die Anwesenheit Gottes in der Welt repräsentiert. Bogdanovic bezieht dieses architektonische Konzept explizit auf Paracelsus: „Der Umriss des Platzes in Gestalt eines dreiblättrigen Klees scheint aus einem Herbarium des Paracelsus übernommen.”[3258] Denn Paracelsus war ein typischer Vertreter des Erfahrung suchenden und wandernden Humanismus. Die Baumeister des Domes, so vermutet Bogdanovic, orientierten sich am alchemistischen Grundprinzip einer Dreiteilung der Welt, und diese triadische Form spiegelt sich in der architektonischen Raumgliederung der Plätze um den Salzburger Dom. Eine verborgene Mitte, die der Architekt Bogdan Bogdanovic auf seinem künstlerischen Weg suchte und von der er in Salzburg – abseits der Metropolen – ein Bild erahnt hat.

  2. „Was weiß ich über meinen Vater?” Suche nach Identität

    Unsere Identität und unsere Lebenskonzepte sind zutiefst mit denen unserer Eltern und Großeltern verknüpft. Übertragungen zwischen den Generationen sind bereits unter „normalen” Bedingungen ein komplexer und mit Konflikten verbundener Prozess. In der Shoah wurden von den Nationalsozialisten nicht nur Millionen von Menschen ermordet. Die Shoah zerstörte eine fundamentale Grundbedingung menschlicher Existenz: das voraussetzungslose Recht jedes Menschen zu existieren und die Möglichkeit, auf die Anerkennung dieses Rechtes zu vertrauen. Der Zusammenbruch dieses Fundamentes jeder humanen Vergesellschaftung hat nicht nur die Beziehungen zwischen Opfern und Tätern in extremen Ausmaß traumatisiert, sondern auch die zwischen den Betroffenen und ihren Nachkommen.[3259]

    Das Schweigen der Betroffenen macht es noch schwerer, Kinder vor den Erinnerungen zu schützen, die ihre Eltern bedrängen. Unerzählte Geschichten vererben sich oft mit größerer Wirksamkeit von Generation zu Generation als erzählte und erzählbare. Sie errichten eine „doppelte Mauer des Schweigens” (Dan Bar-On): Die Eltern erzählen nicht vom Geschehenen, und die Kinder fragen nicht danach. Dieses Phänomen ist sowohl in Opfer- wie in Täterfamilien zu beobachten, doch der Inhalt des Verschwiegenen ist radikal verschieden. Auch die Lebenssituationen offenbaren häufig den Unterschied: Die meisten Familien der Opfer sind gebrochen durch die Ermordung vieler oder der meisten ihrer Mitglieder. Die Überlebenden machten die Erfahrung von Flucht bzw. Emigration. Die Trennung von der Heimat, von der angestammten Kultur trennte auch die Generationen, denn die zweite Generation erlebt nur mehr die psychischen Belastungen. Sie erleiden indirekt die Traumatisierung ihrer Eltern durch die erzwungene Migration. Die meisten Täterfamilien blieben äußerlich intakt. Nur Mitglieder der nationalsozialistischen Führungselite wurden hingerichtet oder für längere Zeit inhaftiert, manche konnten flüchten und untertauchen. In der Regel wurden die Täterkinder jedoch in eine „angestrengte” Nachkriegsnormalität hineingeboren, die jede Traumatisierung leugnete. Erst ein Prozess reflektierten Durcharbeitens konnte für sie das Bewusstsein der psychischen Trennung von ihren Wurzeln bringen. Was aber beiden – Täter- wie Opferkindern – gemeinsam blieb, war eine verunsicherte, gebrochene Identität und die lebenslange Suche nach einem unversehrten Bewusstsein ihrer selbst.

    Heimatgeschichte nach der Shoah zu schreiben bedeutet auch, Geschichten von Heimatlosigkeit und Heimatverlust, von Emigration und Flucht, von verzweifelten Suchbewegungen zu erzählen, die immer noch nicht an ihr Ende gelangt sind. Hinter der schnell errichteten und immer neu renovierten Fassade einer scheinbaren Kleinstadtnormalität verbirgt sich auch in Salzburg die Szenerie gebrochener Identitäten und Generationenfolgen. Verleugnet wird, dass Salzburg nah wie wenig andere Städte an einem der Zentren nationalsozialistischer Herrschaft – im Schatten des Obersalzberg – lag und vom Nationalsozialismus zutiefst geprägt wurde. Nur langsam erreichen wir Nachfolgenden jene seelische Sicherheit, die uns erlaubt, etwas von diesen Brechungen sichtbar zu machen.

    Suche nach Identität – Martin Bormann

    Die Geschichte von Martin Bormann jun. soll im Folgenden als Beispiel erzählt werden. Sein Vater ist seit dem 2. Mai 1945 aus dem Leben des Sohnes verschwunden. Martin Bormann war in den folgenden Jahrzehnten immer wieder mit den öffentlichen Spekulationen zu Tod bzw. Weiterleben seines Vaters konfrontiert, ohne je Gewissheit zu erlangen.[3260]

    Notiz in einer Salzburger Lokalzeitung vom August 2002: Für Aufnahmen zu einer Fernsehsendung „besuchte der heute 72-jährige Martin Bormann noch einmal die Schauplätze seiner Jugend: Maria Kirchental, den Querleitbauern und die Litzlalm."[3261] Martin Bormann jun. wurde im April 1930 als ältestes der zehn Kinder des Sekretärs von Adolf Hitler in Grünwald bei München geboren. Nach einer abgeschirmten Kindheit in der unmittelbaren Umgebung der nationalsozialistischen Führungselite auf dem Obersalzberg kam Martin Bormann im Mai 1940 in die „Reichsschule der NSDAP” Feldafing. Theateraufführungen, Sportfeste, Schilager, Religionsunterricht (Einführung in germanische Götter- und Heldensagen), nationalpolitischer Unterricht (das Parteiprogramm, Hitlers „Mein Kampf”) prägen die Schulerinnerungen des Zehn- bis Vierzehnjährigen. Eine „Baukompanie” aus dem KZ Dachau erweiterte die Schulgebäude. Die Schüler durften die arbeitenden Häftlinge und die Wachen nicht ansprechen, machten aber ihre Beobachtungen. Martin Bormann schreibt in seinen Erinnerungen: „Die Arbeitsaufsicht lag offenbar bei den beiden Kapos. Sie jedenfalls trieben recht brutal ihre Mithäftlinge an.”[3262]

    Ende April 1945 wurde die Schule in Feldafing aufgelöst. Martin Bormann landete nach einer Odyssee auf der Flucht vor den heranrückenden Alliierten Truppen in Salzburg. Dort traf er zufällig wieder auf eine Kolonne von Angehörigen des „Führertrosses” vom Obersalzberg und schloss sich ihnen an. In Saalbach im Pinzgau löste sich die Kolonne auf, nachdem sie die Nachricht vom Waffenstillstand erreicht hatte. Eine Gruppe mit Bormann wollte über die Hirschbühelstraße die Grenze zur benachbarten bayerischen Ramsau erreichen. Bormann blieb allerdings mit einer Fleischvergiftung beim Querleitner, dem letzten Bauern im Hintertal, zurück. Er gab sich als „Martin Bergmann mit Wohnsitz in München” aus und fand dort mehr als einen Unterschlupf: „In Querleitn hatte ich wirklich eine neue Familie und ein Zuhause gefunden. Ich war wie ein jüngster Sohn angenommen, von den Söhnen und Töchtern wie ein jüngerer Bruder, ich gehörte und gehöre bis heute zu ihnen.“[3263]

    Dort erreichten ihn die ersten Berichte und Fotos aus den Konzentrationslagern. Martin Bormann erfuhr von der mörderischen Konsequenz der Rassenideologie, mit der er aufgewachsen war. Später sollte er von den verzweifelten Versuchen seines Vaters erfahren, den Vater seines unehelich geborenen Urgroßvaters ermitteln zu lassen. Dem Leiter der Parteikanzlei und Sekretär des Führers war es nie gelungen, für sich und seine Familie einen Ariernachweis zu erhalten! Ansonsten: „Ja, was weiss ich über meinen Vater?”[3264] fragt Martin Bormann jun. sich selber. Wenig. Das Kapitel über den Vater in seinem Erinnerungsbuch „Leben gegen den Schatten” bleibt merkwürdig dünn und unpersönlich. „Vaters Anwesenheit bei der Familie war immer kurz, unregelmäßig, meist auch angespannt, weil er möglichst nicht gestört werden sollte.”[3265]

    Das Leben in seiner Gastfamilie hat ihn mehr geprägt. Ihr gelebtes Vorbild und die Begegnung mit der für ihn neuen christlichen Lehre führten ihn zum katholischen Glauben und später zum Priesterberuf. So wie die Querleitner zu seiner neuen Familie geworden waren, wurde das Christentum für Bormann zur neuen religiösen Heimat nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Kinderglaubens. Es gestattet ihm auch, den Bruch mit der Welt des Kriegsverbrechers Martin Bormann von seiner persönlichen Loyalität als Sohn seines Vaters zu trennen bzw. abzuspalten. „Das ‚Vierte Gebot' des Dekalogs, der ‚Zehn Gebote', verpflichtet Kinder auch nur zu dieser Liebe und Ehrfurcht gegenüber den Eltern als Eltern, nicht als Funktionsträger in der Gesellschaft. (...) Kinder tragen oftmals an der Schuld ihrer Eltern, wenn denn da Schuld ist und den Kindern bewusst wird. Sie tragen die seelische Belastung der Trauer und Scham darüber, nicht aber Verantwortung dafür."[3266]

    Suche nach Identität – Leiser Gerstenfeld

    Tamara Gerstenfeld aus Tel Aviv machte im Juli 1996 die erste Reise ihres Lebens und besuchte Salzburg, die Stadt ihres Vaters Leiser. Am Bahnhof angekommen war sie zunächst etwas schockiert: eine Kleinstadt! Aus den Erzählungen ihrer Familienangehörigen hatte sie das Bild einer riesengroßen Stadt vor sich gehabt. Doch schon nach einem ersten Spaziergang durch die Stadt hatte sich der erste Schock gelegt. „Ich war sehr gerührt, jetzt selber zu sehen all die schönen Plätze, die ich habe viele Male gesehen in Bildern und Postkarten und worüber ich habe unzählige Geschichten gehört.”[3267] Tamara Gerstenfeld erzählt der Salzburger Historikerin Helga Embacher bei einem Spaziergang durch das abendliche Tel Aviv von dieser Reise in die Stadt ihres Vaters. Mit Salzburg verbindet sie seit ihrer Kindheit eine Fülle von persönlichen Eindrücken und Erinnerungen, obwohl sie die Stadt bis zu diesem Sommer 1996 noch nie gesehen hatte. Salzburg nimmt in der Geschichte ihrer Familie einen zentralen Platz ein. Als Kind hörte sie die stundenlangen Erzählungen ihrer Tante. Wenn Freunde und Bekannte nach Salzburg reisten, mussten sie Fotos mitbringen und Ansichtskarten schicken. Sie wurde mit der Kultur der verlorenen Heimat vertraut gemacht, mit der Musik: Franz Lehár, die Opern von Mozart, der vom Vater verehrte Richard Tauber. Sie erzählt, wie sie zu Fuß von der Synagoge in die Elisabethstraße ging, wo ihr Vater mit seiner Familie gewohnt hatte. Sie wollte den Weg gehen, den ihre Großmutter mit ihren sechs Kindern an jedem Shabbat gegangen war. Am Freitag besuchte sie die Synagoge: „Plötzlich habe ich geweint. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, ich hab' mir vorgestellt meine Großmutter, meinen Großvater, meinen Vater und alle Verwandten.”[3268]

    Die Eltern von Leiser Gerstenfeld waren während des Ersten Weltkriegs aus Galizien geflüchtet und nach Salzburg gekommen. In der Zwischenkriegszeit gehörten sie zu den wenigen Armen in der damals wohlhabenden Jüdischen Gemeinde Salzburgs. Leiser war der älteste Sohn und erbte vom Vater ein Schustergeschäft in der Ignaz-Harrer-Strasse. 1938, nach dem „Anschluss” Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland drohte ihm die Verhaftung. Tamaras Vater flüchtete nach Israel. Ein Bruder wurde in Auschwitz ermordet. Die andern Geschwister und die Mutter konnten nach England entkommen. Sie gingen nach dem Krieg ebenfalls nach Israel und lebten in Tel Aviv mit Leisers Familie zusammen. In Tel Aviv führte Leiser Gerstenfeld ein Schuhgeschäft, in einem Haus auf der Beni-Yehuda-Straße. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Leiser Gerstenfeld ein zweites Mal, und in dieser Ehe wurde ihm die einzige Tochter, Tamara, geboren.

    Leiser Gerstenfeld war in seinem Herzen Salzburger geblieben. 1965 wollte er mit seiner Tochter nach Salzburg reisen. „Aber ich war damals sehr dumm und patriotisch und habe nicht gewollt auch nur einen Tag meine Heimat verlassen.”[3269] Nach dem Tod ihres Vaters bereute Tamara es, nicht gefahren zu sein. Bei ihrem Besuch in Salzburg hat sich Tamara Gerstenfeld mit der Heimat ihres Vaters ausgesöhnt. Sie belegte nach ihrer Rückkehr einen Deutschkurs am Goethe-Institut in Tel Aviv, um „richtiges” Deutsch zu lernen. Denn der Aufenthalt in Salzburg hat ihr erneut bewusst gemacht, mit welchen Traumata für ihren Vater die Vertreibung und die erzwungene Einwanderung in Israel verbunden gewesen sein musste. Mit Hebräisch tat er sich schwer, aber es gab damals noch viele „Jekkes” – Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Österreich – in Tel Aviv, denen er seine Schuhe auf Deutsch verkaufen konnte. Tamara hat ihren Vater zu Behörden oder ins Krankenhaus begleitet und übersetzt. Im Kindergarten schämte sie sich für ihn, wenn er sie abholte und vor den Andern „sein” Deutsch sprach – eine Mischung aus Jiddisch und Salzburger Dialekt. Sie schwieg, und wenn er sie ansprach, verweigerte sie die Antwort. „Ich habe nicht verstanden, dass er nicht gelernt hat Hebräisch, denn er war ein intelligenter und stolzer Mann und hat jeden Tag auf einen Zettel geschrieben Wörter und Vokabeln und auswendig gelernt.”[3270] Leiser Gerstenfeld suchte sogar einen Psychiater auf, der ihm klarmachte, dass er die Sprache dieses Landes nie lernen werde: „Du bist noch nicht angekommen hier im Land und lebst noch immer in Salzburg.”[3271]

    Seit Tamara Gerstenfeld nach Salzburg gekommen war, ist die Stadt zu einem inneren Fluchtort für sie geworden. „Ihr Salzburg” macht es ihr möglich, wenigstens für Momente der bedrückenden Realität im eigenen Land zu entfliehen: der scheinbar ausweglosen politischen Situation, der ständigen Angst um das Leben von Angehörigen. Vor kurzem ist sie selber knapp dem Selbstmordattentat eines Palästinensers auf einen Linienbus in Tel Aviv entkommen. Sie stellt sich vor, wie sie den Mönchsberg hinuntergeht und bis zur Salzach kommt. „Dann beruhige ich mich und schlafe ein.”[3272]

  3. „Wohin sollen wir gehen?” Suche nach Heimat

    Migration und Flucht sind zu bestimmenden Fakten in der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden, und nichts deutet darauf hin, dass sie für das neue Jahrhundert weniger dominant sein werden. Kriege, Bürgerkriege, Ethnozide und die Folgen globalisierten Wirtschaftshandelns unter den Vorzeichen neoliberaler Politik haben die traditionalen Sozialstrukturen vieler Regionen und Länder vernichtet. Ganze Gesellschaften sind zerstört und ihre Populationen auf der Flucht. Erfahrungen mit erzwungener Migration bestimmen die Lebensgeschichte von Millionen Menschen. Auch in Salzburg „landen” eine Vielzahl von Menschen, die Teil dieser weltweiten, massenhaften Wanderungsbewegung sind. Sie sind – zumindest vordergründig – auf der Suche nach einer neuen Heimat. Aber wo sind Menschen, die auf der Flucht sind, zu Hause? Sie haben ihre erste Heimat aus schwerwiegenden Gründen verlassen – in den allermeisten Fällen weil sie verfolgt wurden, mit dem Tode bedroht, weil sie sich plötzlich am Schauplatz eines Krieges oder Bürgerkrieges befanden, weil ihre Region wirtschaftlich zerrüttet war, weil die Infrastruktur ihrer Stadt durch Korruption oder Armut zerstört war. Empfinden sie ihr Herkunftsland – trotz traumatischer Erfahrungen – noch als Heimat? Kann Salzburg, der Ort, wo sie jetzt leben, trotz häufiger Diskriminierung, behördlicher Schikanen, erschwerter Lebensbedingungen für sie eine neue Heimat werden? Die orientierende Polarität von Heimat und Fremde wird in der Situation von MigrantInnen mehrdeutig. Die Erfahrungen sowohl im Land ihrer Herkunft wie auch im Land ihres Ankommens (die wenigsten von ihnen sind hier endgültig angekommen) bringen die Polarität zum Verschwimmen. Was ist Heimat – was ist Fremde? Wenige unter den MigrantInnen, die ich kenne, können diese Frage für sich eindeutig beantworten.

    Für die so genannten „Einheimischen” wirft die wachsende Multikulturalität „ihrer” Stadt, die Präsenz von MigrantInnen und Flüchtlingen ebenfalls neue Fragen auf. Etwa die Frage: „Wo liegt Salzburg?” Der geografische Ort der Stadt ist klar. Auch ihr sozialer Ort scheint definiert: Salzburg ist Teil der kommerziell und medial vereinheitlichten kapitalistischen Weltkultur. Sein internationaler Bekanntheitsgrad reicht weit über die eigentliche regionale Bedeutung der Stadt hinaus. Europäische Hochkultur, Festspiele und Mozart bilden die Bausteine für Imagekonstruktion und Kulissengestaltung der zweiten österreichischen Tourismusmetropole nach Wien. Die Zahl der Übernachtungen von „Fremden” in der Stadt Salzburg beträgt jährlich ca. 1,5 bis 2 Millionen. Dennoch bedeutet die Ankunft von einigen hundert „illegalen” AusländerInnen, die der existentiellen Bedrohung in ihren Herkunftsländern entfliehen möchten, ein Problem, für dessen Lösung keine Gelder existieren und das mit unverhältnismäßiger bürokratischer Härte beantwortet wird. Die kommerzialisierte Internationalität der Stadt ist eine Schimäre, denn sie bildet keine wirkliche Alternative zur provinziellen Monokultur des Reichtums. Die Beziehungen und Gespräche mit MigrantInnen, die hier leben, haben für mich eine ganz andere Form von internationaler Kultur eröffnet: Durch die Anwesenheit von „AusländerInnen” werden die Ereignisse und Geschichten verschiedenster Orte und Kulturen in Salzburg präsent. Multikulturalität macht die ganze Welt an einem Ort erfahrbar: die Situation nach dem Ende des Krieges in Bosnien, die Unterdrückung der Kurden in der Türkei, die Lage in Afghanistan etc. Vielfältige Erfahrungen mit globalen Geschehnissen und Prozessen sind hier in Salzburg vorhanden – und zwar nicht durch die Illusion von Zeitgenossenschaft, die ein Fernsehbericht erzeugt, sondern durch die Gegenwart von Menschen, die ihre Geschichten erzählen.

    Suche nach Heimat – Maria Amberger

    Ich habe Maria Amberger seit dem Jahr 1996 aus den Augen verloren. Bis dahin rief sie mich zwei Jahre hindurch immer wieder an. Ich traf mich mit ihr. Sie erzählte, klagte mir ihr Leid. Ich begleitete sie zum Sozialamt, zum Wohnungsamt, erlebte, wie sie dort hilflos einem Beamten, einem Menschen, der in einer andern Welt lebte wie sie, ausgeliefert war; wie sie ihm gegenüber saß, wie sie zornig wurde, weinte. Innerhalb dieser zwei Jahre wechselte sie häufig die Wohnung. Oft hatte sie kein Geld mehr, wenn sie anrief. 1994 hatte ich Maria Amberger kennengelernt, als ich sie in ihrer Wohnung aufsuchte und sie bat, mir für ein Buch ihre Geschichte zu erzählen. Ihre damalige Wohnung lag an einer Hauptverkehrsstraße in Oberndorf. Das Wohnzimmer, in das sie mich führte, lag auf der ruhigeren Seite des Hauses. Es war voller Möbel und Nippes. Frau Amberger bot mir während des Gespräches immer wieder zu essen und zu trinken an.

    Maria Amberger wurde im September 1938 geboren. Als Kind verbrachte sie fünf Jahre, von 1941 bis 1945, im „Zigeuner-KZ” Lackenbach. Bei dem Ort Lackenbach im Burgenland befand sich das größte Konzentrationslager für Angehörige der Roma, Sinti, Kalderash, Lowa und anderer Gruppen auf österreichischem Boden. Ihre ganze Familie war dort: die Mutter, ihre Brüder, der Onkel. Einer ihrer Brüder starb im KZ. Sie selbst hat dort ein Auge verloren. Ein Angehöriger der Lagerpolizei schlug ihr das Auge aus. Der Polizist war „einer von unseren ‚Menschen'”, wie Maria Amberger es formulierte, ein Verwandter mütterlicherseits. „Wir spielten auf dem Platz, wo alle Kinder spielten. Ich war damals noch ganz klein. Ihm hat mein Spiel nicht gefallen, oder ich bin ihm auf die Nerven gegangen. Ich weiß es nicht. Er hat mich mit einem Holz geschlagen. In dem Holz war ein Nagel. Damit hat er mir das Auge kaputtgemacht.” Im Jahr nach der Befreiung lebte Maria Amberger mit ihrer Mutter in Wien. Die Mutter hatte in Lackenbach einen Litauer kennengelernt, mit dem sie nun befreundet war. Die Mutter folgte ihm 1946, gemeinsam mit ihrer Tochter, nach Litauen. Die Familie der Mutter wollte sie zunächst nicht ziehen lassen, denn die Mutter hatte außer Maria noch sechs weitere Kinder. Doch die Mutter war schwanger von ihm und fuhr mit. Das Kind kam während der Reise auf die Welt. Nachdem das Kind geboren war, nahm der Vater es und versteckte es im Reisekoffer. Denn sie hatten ja keine Papiere für das Kind. Es starb im Koffer.

    In Litauen ging es den beiden Frauen schlecht. Der Mann war Alkoholiker. Er schlug Maria und ihre Mutter. „Er hat sich nicht anders verhalten als die Nazis”, sagte Maria Amberger im Gespräch über ihn. Sein Name fiel kein einziges Mal während der Erzählung. Der Mann nahm eine zweite Frau und lebte von nun an mit beiden und vom Geld beider. Die Mutter fand Arbeit beim Hausbau, sie schickte Maria in die Schule, was in Zigeunerfamilien unüblich war: „Kein Zigeuner geht normalerweise zur Schule. Ich war die einzige von den Zigeunern unserer Gegend.” Die Mutter wurde krank, sie ertrug die schwere Arbeit am Bau nicht mehr. Mehrere Spitalsaufenthalte, Maria versorgte währenddessen die vier Geschwister, die noch klein waren. Damals brach sie die Schule ab. Maria und ihre Mutter wollten unbedingt nach Österreich zurückkehren, doch sie waren staatenlos, und erst nach langen Bemühungen und vielen Anträgen bei den sowjetischen Behörden erhielten sie einen „Staatenlosen-Pass”. Die Beziehung zum Mann ihrer Mutter verschlechterte sich immer mehr. Schließlich sprach ein „Zigeunerbaron”[3273] die Scheidung aus, doch der Mann akzeptierte den Spruch nicht und schlug die beiden noch mehr.

    Obwohl es für Staatenlose verboten war, von einer Sowjetrepublik in die andere zu reisen, wagten sich die beiden nach Moskau, um über die Rotkreuz-Zentrale Kontakt mit ihren Verwandten in Österreich aufzunehmen. Maria war bei den Behördengängen und beim Roten Kreuz Anwältin und Dolmetsch zugleich für die Mutter, die weder litauisch noch russisch sprach. „Viele Jahre war es für meine Mutter verboten, zurückzugehen. Ihre Bitten wurden abgelehnt. Sie hatte Angst vor der russischen Behörde, vor den Beamten und davor, dass sie bestraft würde oder ins Gefängnis müsste wegen des Kindes, das auf der Reise gestorben war.” Schließlich bekam die Mutter die Ausreisegenehmigung und übersiedelte zu einem ihrer Söhne nach Deutschland. Maria war in der Zwischenzeit verheiratet und hatte drei Kinder. Sie wollte mit ihrer Mutter weg, doch ihr Mann ließ sie nicht. Auch er war Alkoholiker und lebte vom Einkommen seiner Frau. Maria war Möbelschleiferin von Beruf. „Unter den Zigeunern will kein Mensch arbeiten. Für den Mann muss die Frau das Brot verdienen. Unter den litauischen Zigeunern ist es Sitte, ja Gesetz: Die Frau muss gehen und verdienen. Wenn du nichts nach Hause bringst, kriegst du Schläge.”

    1990 schließlich kam Maria Amberger nach Österreich zurück. Inzwischen hat sie auch die österreichische Staatsbürgerschaft, da sie mit Hilfe ihres Bruders ihren Status als Opfer des Nationalsozialismus nachweisen konnte. Sie nahm ihre Kinder aus Litauen mit sich. Ebenso ihre Mutter aus Deutschland, die inzwischen pflegebedürftig war. Doch ihre Erwartungen erfüllten sich nicht. Einer ihrer Söhne kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der zweite ist arbeitslos. Sie selber nimmt jede Arbeit, die sie kriegen kann. Sie arbeitete bisher als Küchenhilfe in einem Café, in einer Putzfirma, zeitweise geht sie privat putzen. Als Möbelschleiferin bekommt sie in Österreich keine Stelle mehr. Maria sehnt sich zurück nach Litauen, doch sie will ihre Kinder – vor allem ihren verstorbenen Sohn – nicht allein lassen. „Das Übersiedeln nach Litauen kostet auch viel: die Papiere, die Fahrkarte. Ich habe mich erkundigt. Zuviel. Und jetzt will der Besitzer das Haus, wo wir wohnen, verkaufen. Wir müssen aus der Wohnung heraus, ich kann die Miete nicht bezahlen. 8000 Schilling monatlich kann ich nicht zahlen. Wohin sollen wir gehen?”[3274]

    Suche nach Heimat – Ahmet und Emine Gören

    Die Geschichte von Ahmet und Emine Gören ereignete sich vor acht Jahren. Sie kann sich heute in ähnlicher Form wieder ereignen und zeigt in ihrer Extremform, was es bedeutet, Flüchtling in Österreich zu sein. Der Tod von Markus Omofuma hat die Brutalität der Abschiebungspraxis durch die österreichischen Behörden für kurze Zeit zum Thema öffentlicher politischer Debatten gemacht. Viele Vorgänge von vergleichbarer Brutalität blieben unbekannt, weil sie zu keinem Todesfall führten. Ahmet und Emine beschreiben die Erfahrungen einer so genannten „sekundären Traumatisierung” durch Erlebnisse im Ankunftsland in ungeschminkter Härte und Deutlichkeit.[3275] Ihre Geschichte ist ein Stück österreichischer Zeitgeschichte. Ahmet und Emine Gören leben nun schon seit mehreren Jahren in Salzburg, sie sind letztlich nicht abgeschoben worden.

    Beide flohen im Jahr 1992 aus der Türkei nach Österreich. Emine wurde im Juli 1966 in Anteb, einem Dorf in Ostanatolien, geboren. Anteb liegt noch in Kurdistan, aber an der Grenze zum türkischen Siedlungsgebiet. Ahmet wurde im selben Jahr in Yukarigöglu geboren, einem Dorf, das zum Kreis der Stadt Halfeti gehört. Halfeti ist der Geburtsort von Abdullah Öcalan, dem früheren Führer der PKK. Allein deshalb wurden alle Kurden aus diesem Gebiet als PKK-Anhänger betrachtet. Bevor sie flohen, war Ahmet zweimal von den Militärs verhaftet und gefoltert worden. Beide stellten nach ihrer Ankunft in Österreich einen Asylantrag, der in erster Instanz abgelehnt wurde. Aufgrund einer Festnahme bei einer Demonstration erhielt Ahmet einen Abschiebungsbescheid und wurde im März 1994 erneut festgenommen. „Damals war ich 28 Tage in Wels und Linz in Schubhaft. Während der ganzen 28 Tage blieb ich im Hungerstreik; ich habe nichts gegessen, nur getrunken. Ich verlor in dieser Zeit etwa 25 Kilo und wurde in den letzten Tagen des Hungerstreiks sehr krank.”

    Er wurde – trotz seiner Krankheit – ohne ärztliche Behandlung entlassen und kehrte zu seiner Familie zurück. Im April wurde Ahmet zufällig auf der Straße von Zivilpolizisten angehalten; es folgten: Verhaftung, wieder Gefängnis, wieder Schub. Nach einer Woche neuerlichen Hungerstreiks verlor er das Bewusstsein, er war noch zu schwach vom ersten. Als er aufwachte, zündete er sein T-Shirt an, um sich zu töten. Er wurde in die Nervenklinik überstellt, da die Behörden offenbar annahmen, er sei psychisch krank. Er erinnert sich, wie er damals schrie: „Ich bin nicht krank. Ich bin auch nicht deppert. Ich bin in Ordnung. Ich will bei meiner Familie bleiben!” Nach einer Woche versuchte man, die Abschiebung in die Türkei durchzuführen. Sie setzten ihn in ein Auto und fuhren los. „Wohin fahren wir?” Die Beamten schwiegen. Ahmet ahnte, dass sie auf dem Weg zum Flughafen waren. Er hatte in seinem Schuh ein Feuerzeug versteckt und zündete sich wieder an. Die Polizisten hielten an, löschten seine Kleider und brachten ihn ins Polizeigefängnis Linz. Er wurde vollkommen nackt in eine Zelle geworfen. Die Zelle war leer und kalt, eine Gummizelle. Er wurde geschlagen. 33 Stunden lang lag er allein in dieser Zelle und erhielt keine Nahrung. Nach 30 Tagen, am 24. Mai 1994 wurde er freigelassen und kehrte zu seiner Familie zurück.[3276]

  4. Ein Ende der Suche?

    Die Katastrophe der Shoah hat die bereits am Beginn angesprochene Polarität zwischen geschlossenen und offenen, kreisförmigen und linearen Gesellschaftsformationen aufgelöst. Im kulturellen Bewusstseinswandel der Postmoderne wurde nun versucht, die Konsequenzen dieser europäischen Katastrophe philosophisch zu Ende zu denken, indem die großen Gesellschaftsentwürfe der Moderne dekonstruiert wurden. Damit steht auch die Suche nicht mehr im Gegensatz zu gängigen Normvorstellungen. Die Auflösung aller eindeutigen Ordnungskategorien und geschlossen strukturierten Sozialformen hat Suche scheinbar zur allgemeinen Lebensform werden lassen. In der postmodernen Gesellschaft sind die in Suchbewegungen Verstrickten nicht mehr Außenseiter. Permanente Mobilität, nur temporär bestehende Bindungen, wechselnde Zugehörigkeiten sind zur Sozialform einer Mehrheit geworden, die auch tief in die Identität der Gesellschaft eindringt. Der Migrationsdruck aus den verarmten, ökonomisch, sozial und kulturell zerstörten Regionen der südlichen Erdhemisphäre schafft eine wachsende Multikulturalität der europäischen Gesellschaften. Dieser Wandel gibt auch den stabil Lebenden in der Wohlstandskultur ein Gefühl fluktuierender Verhältnisse, deren beschleunigter Wechsel keine Richtung mehr erkennen lässt.[3277]

    Man könnte es damit bewenden lassen, dass jeder gesellschaftliche und kulturelle Wandel neue Formen der Suche hervorgebracht habe und es in der späten Moderne nicht anders sei. Die enorm gewachsene physische und soziale Mobilität, weltweite Flugverbindungen und das WorldWideWeb haben neue Kommunikations- und Sozialformen ermöglicht und infolgedessen eben neue Wege der Suche hervorgebracht.[3278] Offen bleibt allerdings, ob damit nicht auch die Existenzform der Suche als ganze an ihr Ende gelangt ist. Denn Bewegung lässt sich in der Unterscheidung von Sesshaftigkeit fassen. Suche wird definiert durch ihr Gegenteil: die geschlossene Lebensform, die ihr Ziel in sich trägt. Wie kann ich eine Suchbewegung erfassen, die keine Vorstellung einer künftigen stabilitas, eines Ankommens am Ziel in sich trägt, sondern nur noch den ins Unendliche verlängerten Entwurf ihrer selbst? Ist die Existenzform der Suche mit der Postmoderne an einem Ende angelangt, das kein Ziel ist, sondern die Auflösung ihrer selbst?

    Eine kleine Alltagsgeschichte – E-Mail-Gespräche mit Ernst Fürlinger

    Ernst Fürlinger beschloss, seinen derzeitigen Beruf aufzugeben und etwas ganz Neues zu beginnen. Er hat in Salzburg Theologie studiert und zuletzt in einer kirchlichen Erwachsenenbildungseinrichtung gearbeitet. Er betreute dort einen Programmschwerpunkt „interreligiöser Dialog” und begegnete vielen Menschen anderer Kulturen und Religionen. Aus diesen Begegnungen und Erfahrungen wuchs in ihm der Entschluss, eine wissenschaftliche Arbeit über die religiösen Kulturen Indiens zu schreiben. Um diesen Entschluss zu verwirklichen, gab er seinen bisherigen Beruf auf und ging für mehrere Monate nach Indien, an die Universität Varanashi, um Sanskrit zu lernen, die religiösen Quellentexte im Original zu lesen und die religiöse Kultur direkt kennenzulernen.

    Bevor er nach Indien flog, gab mir Ernst Fürlinger eine Mailadresse, damit wir uns schreiben konnten und während der Zeit seines Aufenthaltes in Verbindung blieben. Als ich auf mein erstes Mail an ihn längere Zeit keine Antwort erhielt, dachte ich zunächst: Nun, er wird am Anfang Besseres zu tun haben, als Mails zu beantworten. Später glaubte ich, er werde für längere Zeit nicht in Varanashi sein. Schließlich, als ich lange und nach mehreren Mails nicht von ihm hörte, kam ich zu der Überzeugung, ich müsse die Adresse falsch notiert haben. Andere Bekannte von Ernst Fürlinger hatten die selbe Mail-Adresse. Ich probierte dennoch andere Varianten dieser Adresse aus. Sie alle kamen mit Fehlermeldungen zurück. Die ursprüngliche Adresse produzierte keine Fehlermeldung, blieb aber trotzdem ohne Antwort. Telefonnummer hatte ich keine. Der Postweg wäre eine mögliche Alternative gewesen, brauchte aber unter Umständen viele Wochen. Langsam stellte sich bei meinen vergeblichen Versuchen ein Gefühl des Verlorenseins im Netz ein. Ich begann unter dem Stichwort „Suche” in den diversen Suchmaschinen zu suchen. Vielleicht kam irgendeine brauchbare Idee dabei heraus, wie ich Ernst doch noch finden konnte. Dabei stieß ich auf eine Reihe von Kuriositäten, die das Internet als Suchmedien anzubieten hat.[3279]

    Zwei Beispiele: Unter der Rubrik der so genannten „Metasucher”, also der speziellen Suchmaschinen, fand ich die „Menschensuchmaschinen”, darauf spezialisiert, Menschen im Internet zu finden. Die Metapher scheint so selbstverständlich, dass man sie kaum noch als solche wahrnimmt: Die „Menschensuchmaschine” sucht (und findet) natürlich keine Menschen, sondern E-Mail-Adressen, Telefonnummern und Postadressen (gebräuchlichste Menschensuchmaschine: das Telefonbuch im Internet), Verzeichnisse von Experten für die verschiedensten Wissens- und Kompetenzbereiche, alles was im Netz über sie gespeichert ist. Nicht zu vergessen: spezielle Suchmaschinen für Flirt, Sex oder Partnersuche. Ein Werbetext für eine Partnersuchmaschine verdeutlicht die Ideologie dieser Suchform: „Sonntagnachmittag, grauer Himmel und Langeweile? Jeden Samstagabend rastlos auf der Pirsch nach dem oder der Richtigen? Auch über Internet lässt es sich nach Gleichgesinnten suchen. Nicht nur samstagabends ...” Eine andere Form der Suchmaschine ist „human answer”: Dabei handelt es sich um Frage-Antwort-Portale, die direkte menschliche Unterstützung beim Finden von Antworten anbieten. Da die automatisierte Suchmaschine bei komplexeren Anfrageformen häufig nicht zum Ziel kommt, wird hier der human factor über Telefon, Chat oder E-Mail dazwischengeschaltet. Es gibt sowohl Funportale, die Spaßantworten liefern, als auch umfangreiche ExpertInnenportale – etwa „QuandAcafe”, das Bibliothekare als ExpertInnen bei bibliografischen Fragestellungen zur Verfügung hat.

    Nicht über Suchmaschinen fand ich Ernst Fürlinger wieder. Irgendwann trudelte schlicht und einfach seine Antwort in meiner Mailbox ein. Was die Ursache unserer Kommunikationsstörung im WWW war, weiß ich bis heute nicht. Während unseres „Gesprächs” über Mail (wiederum eine Metapher, die bald nicht mehr als solche erkennbar sein wird) erzählte ich ihm von einem Essay, an dem ich gerade schreibe: „Menschen auf der Suche” und bat ihn, mir Eindrücke seiner jetzigen Lebenssituation zu schreiben, Fragmente, an denen Befindlichkeiten einer „globalen Existenz” ablesbar werden, wie sie heute alltäglich geworden ist. Während unseres Mail-Gesprächs wurden mir einige Merkmale dieser Existenzform deutlicher bewusst als bisher; mag sein durch die Gleichzeitigkeit von Praxis und Reflexion: Wir kommunizieren über ein globales Medium von weit entfernten Orten aus miteinander, und gleichzeitig tun wir das im Zusammenhang eines Essays, der diese Form der Kommunikation und Existenz als „Ende der Suche” reflektiert.

    Zwei schlichte Fakten sind mir plötzlich ganz nahe gerückt: Für immer mehr Menschen – im Augenblick eben auch für Ernst Fürlinger und mich – wird die Welt zur Heimat oder zur Diaspora; nur eine geringe Verschiebung des Blickwinkels (vorhandene bzw. nicht vorhandene Aufenthaltsgenehmigung oder gültiges bzw. ungültiges Visum etwa) macht den Unterschied. Und: Sie existieren in dieser Welt auf ganz neue Weise: als Gastarbeiter, Erasmus-StudentInnen, Facharbeiter eines multinational agierenden Unternehmens. Mit neuen Identitäten: als Österreicher in Kuweit, als Ruandese in Salzburg, als Spanierin in Berlin. Vielfach vermengen sich diese Identitäten auf noch komplexere Weise: Ernst Fürlinger ist in der Nähe von Wels geboren und zur Schule gegangen. Er studierte in Salzburg als Oberösterreicher, d.h. keineswegs als Einheimischer. Doch verließ er Salzburg nicht als „zweite Heimat”, in der er schon lange gelebt und eine Arbeitsstelle gefunden hatte? Derzeit ist er zum zweiten Mal in Indien, für mehrere Monate, um dann vielleicht in Wien sein Studium zu beenden. Aber Salzburg, Wien oder Berlin werden jedem andern Ort auf dem Globus immer ähnlicher, weil überall vielfältige multiethnische Zentren entstehen. Außerdem trägt das WWW dazu bei, dass der fernste Punkt der Welt „nur einen Mausklick weit” (Pico Iyer) entfernt ist – nun ja: bei Pannen oder Bedienungsfehlern braucht es vielleicht einige Mausklicke mehr. Beinahe jeder Ort der Erde ist Teil einer polyzentrisch geordneten geometrischen Figur, innerhalb derer sich von jedem Punkt aus eine direkte Linie zu jedem andern ziehen lässt. Zum Beispiel: Ich erzähle dem Oberösterreicher Ernst Fürlinger, den ich mir in Varanashi über einem Sanskrit-Text brütend vorstelle, über Mail, dass beim Gegengipfel gegen das World Economic Forum im Salzburger September 2002 der Wiener Leo Gabriel sprach, der den größten Teil seines Lebens in Lateinamerika verbracht hat.

    Doch wie alle Weltbilder und -szenarien ist auch dieses ein Konstrukt, das sein Gegenteil herausfordert. Denn die Sonderwelten und Regionalismen dieser Welt – besser: ihrer zahllos verschiedenen Welten! – sind widerspenstig. Die lokalen Geister lassen sich nicht ohne weiteres vom Weltgeist verdrängen, sie treten mit ihm in einen – manchmal komischen – Ringkampf. Als Antithese zum Gesagten und als Abschluss dieser Suchbewegung, die sich als Essay verkleidet hat, möchte ich eine Passage aus einem Mail von Ernst Fürlinger zitieren.[3280] 33 Er hat dieses Mail „glimpses aus varanashi” genannt.

    glimpses aus varanashi

    „die erste stunde sanskritkurs an der BHU (Universität Varanashi, Anm.d.Verf.). ich irre eine halbe stunde durch das fast leere riesengebaeude. schliesslich komm ich in den richtigen raum, da sitzt der lehrer allein im dunkeln, wortloses gruessen, ich setz mich dazu, stille. ich denke schon, ich hab mich in die taubstummenklasse verirrt, aber selbst dort wird kommuniziert, und wo sind die andern stummen? ploetzlich faengt er an, rezitiert etwas auf sanskrit (ein gebet um ein wunder der verstaendigung, ein hindu- pfingsten?) und kritzelt das alfabet auf die tafel, schwer identifizierbar, wenn ichs nicht schon wuesste. aber man sieht eh fast nix, weil der strom ausgefallen ist. draussen rauscht der monsun, poetische momente, er geht durch die decke, von der riesenhohen decke tropft es auf meine hingekritzelten buchstaben, die sich gleich aufloesen, winzige symbole der vergaenglichkeit von schriftkulturen. die meiste energie geht drauf, einen lachanfall niederzudruecken. nach einer halben stunde ist die stunde aus.

    gestern frag ich mich zu einer ganesh puja durch, bei der ein freund tabla spielt, der vinod lele. irgendwann find ich das haus, werf meine mala ueber einen wirklich haesslichen kitsch-ganesh, dann geht das programm los, ein paar winzige maedchen, max. 4 j., tanzen zu hindifilmmusik, dann faellt wieder der strom aus, ein paar lampenfunzeln beleuchten die buehne, auf der eine 15jaehrige zu filmmusik eine mischung aus aerobic, mudras und spastischen anfaellen erfindet. ich finds wahnsinnig witzig, aber irgendwann kann ich mir immer weniger vorstellen, dass mein pandit, der vinod in dem programm spielen wird, frag ob das das sharad bhavan ist, nein das ist ein paar haeuser weiter. falsche ganesh puja, dort ist dann alles schoen klassisch hergegangen, schoener ganesha mit elektrischer christbaumbeleuchtung, die blinkt, zwischen den portraets ehrwuerdiger gurus sitzen gr. pluesch-koalas in plastik verpackt. wunderbare musik, v.a. dhrupad[3281] haut mich immer wieder um.”

Verwendete Literatur:

[Bar-On 1996] Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Reinbek 1996.

[BaumannZ 1992] Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992.

[BaumannZ 1995] Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt am Main 1995.

[BeckerD 1992] Becker, David: Ohne Hass keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten. Frankfurt am Main 1992.

[Bogdanovic 2000] Bogdanovic, Bogdan: Der verdammte Baumeister. München 2000.

[Bormann 1996] Bormann, Martin: Leben gegen Schatten. Paderborn 1996.

[Brettenthaler/Laireiter 1962] Brettenthaler, Josef; Laireiter, Matthias: Das Salzburger Sagenbuch. Salzburg 1962.

[Castells 2001a] Castells, Manuel: Das Informationszeitalter: Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Bd. I: Die Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001.

[Castells 2001b] Castells, Manuel: Internet, Netzgesellschaft. In: Lettre International Nr. 54 (2001), S. 38–44.

[DopschH/Goldammer/Kramml 1993] Dopsch, Heinz; Goldammer, Kurt; Kramml, Peter F. (Hg.): Paracelsus (1493–1541) „Keines andern Knecht ...“. Salzburg 1993.

[Embacher/Fürlinger/Mautner 1999] Embacher, Helga; Ernst Fürlinger; Josef P. (Hg.): Salzburg : Blicke. Salzburg [u. a.] 1999.

[Iyer 2002] Iyer, Pico: Fremde Heimat. Ganze Welt. In: Lettre international 56 (2002), 20–26.

[Kuschel 1996] Kuschel, Karl-Josef: Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint. München 1996.

[MautnerJ/Kampfer 1995] Mautner, Josef P.; Kampfer, Angelika: fremde heimat salzburg. Salzburg [u. a.] 1995.

[MautnerJ 2001] Mautner, Josef P.: Volkskultur und Antimoderne. Das Salzburger Adventsingen im soziokulturellen Kontext 1946–1960. In: Faber, Richard (Hg.): Säkularisierung und Resakralisierung. Zur Geschichte des Kirchenlieds und seiner Rezeption. Würzburg 2001, 165–188.

[McLuhan 1995] Mc Luhan, Marshall: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Paderborn 1995.

[Ottomeyer/Peltzer 2002] Ottomeyer, Klaus; Peltzer, Karl (Hg.): Überleben am Abgrund. Psychotrauma und Menschenrechte. Klagenfurt 2002.

[SchottroffL/Stegemann 1978] Schottroff, Luise; Stegemann, Wolfgang: Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen. Stuttgart [u. a.] 1978.

[SchottroffW/Stegemann 1979a] Schottroff, Willy; Stegemann, Wolfgang: Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Auslegungen. Bd. 1: Altes Testament. München [u. a.] 1979.

[SchottroffW/Stegemann 1979b] Schottroff, Willy; Stegemann, Wolfgang: Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Auslegungen. Bd. 2: Neues Testament. München [u. a.] 1979.

[Stegemann 1981] Stegemann, Wolfgang: Das Evangelium und die Armen. Über den Ursprung der Theologie der Armen im Neuen Testament. München 1981.

[Young 1997] Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt am Main 1997.



[3248] Vgl. die verschiedenen Ansätze abrahamischer Theologie und Ökumene, z.B.: [Kuschel 1996].

[3250] Auch die Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit der Hirten klingt in den Motiven der Adventbräuche immer wieder an. Zu multiethnischen und multikulturellen Ursprüngen und Geschichte des Weihnachtsfestes siehe: [MautnerJ 2002].

[3251] Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen der synoptischen Evangelien weisen im Besonderen auf die Zugehörigkeit der frühen Jesusbewegung zur untersten Bevölkerungsschicht Palästinas und auf ihren Charakter als Wanderbewegung hin; vgl.: [SchottroffL/Stegemann 1978]; [Stegemann 1981]; [SchottroffW/Stegemann 1979a]; [SchottroffW/Stegemann 1979b].

[3252] Siehe dazu: [BaumannZ 1995]; sowie: [BaumannZ 1992]; [Young 1997].

[3253] Vgl. die Publikationen von [Bogdanovic 1993]; [Bogdanovic 1994]; [Bogdanovic 1997].

[3254] Bogdanovic beschreibt diesen Vorfall in der ersten Skizze von „Der verdammte Baumeister“ mit dem Titel „Die grüne Schachtel“ ([Bogdanovic 2000], S. 7–15).

[3259] Eine Fülle von Forschungsprojekten und Literatur beschäftigt sich mit den traumatisierenden Auswirkungen der Shoah auf die Nachkommen von Opfern wie Tätern, ein Beispiel: [BergmannM/Jucovy/Kestenberg 1995]. Ein Überblick findet sich in: [Bar-On 1996], S. 47–50.

[3260] Vgl. das Kapitel „Mein Vater – was weiss ich über ihn?“ in: [Bormann 1996].

[3261] [Salzburger Nachrichten], 29.8.2002 (Lokalteil), 6/7.

[3267] [Gerstenfeld/Embacher 1999]. Ich danke Helga Embacher für diese Geschichte und für weitere Informationen zur Familie von Leiser Gerstenfeld.

[3273] Viele Zigeunerfamilien leben in einer eigenen patriarchalen Kultur und Sozialordnung. Der „Zigeunerbaron“ ist eine Autoritätsperson, die über mehrere Großfamilien hinweg das Zusammenleben regelt und Rechtsprechung übt.

[3274] Das Gespräch mit Maria Amberger findet sich in: [MautnerJ/Kampfer 1995], S. 104–113.

[3275] Zum Phänomen der so genannten „sekundären Traumatisierung“ von MigrantInnen und Flüchtlingen vgl.: [BeckerD 1992]; [Ottomeyer/Peltzer 2002].

[3276] Zur Geschichte von Ahmet und Emine Gören siehe: [MautnerJ/Kampfer 1995], S. 83–91.

[3277] Der Essay von Pico Iyer erzählt in persönlicher und reflektierter Form von diesen Suchbewegungen: [Iyer 2002].

[3278] Vgl.: [Castells 2001a]; [Castells 2001b]; ein Klassiker: [McLuhan 1995].

[3279] Unter dem Stichwort „Menschen auf der Suche“ filterte www.google.de 1.140.000 Treffer aus dem Netz.

[3280] Gesendet: Sonntag, 15. September 2002, 07:36.

[3281] „Divine Dhrupad“, indischer Flötist aus Birndaban; begründete eine klassische Tradition der indischen Musik, die von zeitgenössischen Flötisten wie Hari Prasad Chaurasia fortgeführt wird.

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