Startseite: Bräuche im Salzburger LandFolge 1: Im Winter und zur WeihnachtszeitFolge 2: Vom Frühling bis zum HerbstBegleitheft (in Arbeit)ZitierempfehlungVolltextsucheHilfe

„Es ist die höchste Eisenbahn“ (Ferdinand Dieter)

Kommentar Ulrike Kammerhofer-Aggermann

Der nachstehende historische Zeitschriftenartikel zeigt an einem Beispiel auf, dass zeit- und regionsspezifische Witze, Redensarten und Späße auch aus lokalen Situationen und Besonderheiten oder technischen Neuerungen entstehen können. Gerade Wendungen, die ihre Entstehung den technischen Errungenschaften verdanken, können besonders leicht datiert werden. Davon unabhängig können sie zu Moden werden, die sich weithin verbreiten und deren Herkunft nicht mehr bewusst ist. Eine 1902 für „Berlin und anderswo“ als gängige Redensart benannte Floskel fand soweit Beachtung, dass sich die „Zeitschrift des Vereines für Volkskunde“ ihrer annahm. Eine aus heutiger Sicht interessante Tatsache, da sich darin erweist, dass auch zur Frühzeit dieses Faches der Blick auf den Alltag nicht immer durch das Heraufbeschwören erhabener Vergangenheiten verstellt war.

Die Wendung „Es ist die höchste Eisenbahn!“ – in Verwendung für die Betonung von Eile oder Dringlichkeit im Sinne von „Es ist höchste Zeit!“ – findet sich heute auch weithin unter den in Österreich gebräuchlichen Redensarten. Sie hatte bereits in den 1970er-Jahren Eingang in den Schulunterricht (Nennungen: Gymnasien Leoben und Bruck a. d. Mur) und den Universitätsunterricht in Graz (Universität Graz, Anglistik) gefunden, um den Schülern und Studierenden die Unübersetzbarkeit von idiomatischen Phrasen am Beispiel von jener, für der englischen Muttersprache Angehörende unverständlichen, Sentenz „It is the highest railway to go home“, zu vermitteln. Dadurch wurde die „englische Variante“ dort zum Bestandteil der Schülersprache.

Lutz Röhrich zitiert in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten die unten angeführte Herkunftserläuterung von 1902. Er zählt diese Wendung zu jenen „... Redensarten, die eine feste Form haben, starre phraseologische Verbindungen, die selbst schon einen Satz für sich bilden, ohne daß man sie deshalb schon zu den Sprichwörtern zählen dürfte.“[4941] Außer dieser Redensart nennt er noch zwei weitere, die auf die Eisenbahn Bezug nehmen. In Schwaben sagt man u. a., wenn man verdeckt über jemanden sagen will, dass er dumm sei: „Dear isch net schuld, daß d’Eisebahn fahrt“. In Mecklenburg heißt es über einen weit verbreiteten Tratsch und Klatsch: „Das hat schon in der Eisenbahnzeitung gestanden“.[4942]

Dass der Ausdruck aus einer humoristischen Szene, also vom Theater stammt und nur am Rande mit der technischen Errungenschaft der Eisenbahn in Zusammenhang steht, geht daraus hervor. Die Eisenbahn als solche kommt ja auch im Sketch nur als relativ willkürliche Staffage, nicht aber in einer bewerteten, ihre Neuheit oder Bedeutung einbeziehenden Funktion vor. Dennoch war zurzeit der Entstehung dieser Redensart die Eisenbahn in Deutschland noch neu und damit im Tagesgespräch wie im Kabarett wohl gerne erwähnte Besonderheit. Die erste Bahnlinie in Deutschland wurde am 7. Dezember 1835 mit der 6,1 Kilometer langen Ludwigsbahn von Nürnberg nach Fürth eröffnet. 1839 wurde die bereits 115 Kilometer lange Strecke von Leipzig nach Dresden eröffnet.[4943] 1850 besaß Deutschland bereits ein Eisenbahnnetz von 5.470 Kilometern[4944]. 50 Jahre danach war die Eisenbahn im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch so Aufsehen erregend, dass sie Eingang ins Kabarett fand.

Ferdinand Dieter: „Es ist die höchste Eisenbahn“[4945]

„Diese Wendung wird heutzutage in Berlin und anderswo in dem Sinne: ‚Es ist die höchste Zeit‘ gebraucht, ohne dass sich die Sprechenden bewusst sind, woher der seltsame Ausdruck stammt, der – ohne Beziehung nachgesprochen – nicht gerade sinnreich genannt werden kann. Eine ältere Generation der Berliner bediente sich seiner offenbar noch mit dem Bewusstsein seines Ursprungs. Er rührt von Adolf Glassbrenner (alias Brennglas) [Anm. Kammerhofer: 1810–1876] her, dem bekannten Vertreter des Berliner Volkswitzes in den dreissiger und vierziger Jahren, dessen Darstellungen und Scherze aus dem Leben der unteren Stände zu jener Zeit von Mund zu Mund gingen. In einer humoristisch-dramatischen Scene ‚Ein Heiratsantrag in der Niederwallstrasse‘ hält um die Hand der Tochter des Stubenmalers Kleisich der Briefträger Bornike an. Dieser ist eine brave, ehrliche Haut, nur leider ein wenig zerstreut, weil ihm, wie seine Auserwählte Karline meint, ‚seine Silberjroschens vor de Briefe immer durch den Kopp jehen‘. Bornikes Zerstreutheit äussert sich besonders darin, dass er zwei Dinge, über die er zugleich etwas aussagen will, gern miteinander vertauscht. Als sein Schwiegerpapa ihm eröffnet, was er seiner Tochter als Mitgift gewähren werde, antwortet er: ‚Diese Dochter is janz hinreichend; ich heirate Ihre Mitgift.‘ Gegen Ende der Scene bricht Bornike eiligst auf, da die Leipziger Post eingegangen sei und die Briefe ausgetragen werden müssen. Er sagt beim Abschied: ‚Es ist die allerhöchste Eisenbahn, die Zeit ist schon vor drei Stunden anjekommen.‘

Eine Vertauschung der Begriffe in dieser und ähnlicher Weise scheint ein beliebter Scherz in jenen Tagen gewesen zu sein. In der bekannten Schilderung des Stralauer Fischzugs erzählt Glassbrenner von dem Gurkenhändler, der seinen Ruf ‚Saure Gurken, meine Herren‘, wenn niemand sich zum Kaufe findet, in ‚Saure Herren, meine Jurken‘ umwandelt, und er selbst bedient sich des Scherzes noch mehrfach. So lässt er im ‚Schützenplatz‘ den Knopfmacher Pote sagen: ‚Da drüber (nämlich über den sonnigen Schlossplatz) soll nu ein Mensch bei eenundzwanzig Jrad Mittaghitze in’n Schatten, der keinen drocknen Leib an seinen janzen Faser hat.‘ [Vgl. auch Müller-Fraureuth, Lügendichtungen 1881 S. 18f.]“



[4941] Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 4 Bände. (1. Auflage 1973) 2. Auflage. Freiburg i. Breisgau 1988. hier Band 1, S. 10 und S. 25f.

[4942] Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 4 Bände. (1. Auflage 1973) 2. Auflage. Freiburg i. Breisgau 1988. hier Band 1, S. 216 und S. 232.

[4944] Lexikonredaktion des Bibliographischen Instituts (Hg.): Meyers Neues Lexikon in 8 Bänden mit Atlasband und Jahrbüchern. Band 2: Bp–Fd. Mannheim 1979, S. 496.

[4945] Dieter, Ferdinand: „Es ist höchste Eisenbahn.“ In: Bolte, Johannes (Hg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 12. Jg. Berlin 1902, S. 348–349.

This document was generated 2022-08-08 16:46:39 | © 2022 Forum Salzburger Volkskultur | Impressum