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Geburt heute (Alfons Staudach)

Die Fragen wurden am 3. Jänner 2004 von Ulrike Kammerhofer-Aggermann an Herrn Univ.-Prof. Dr. Alfons Staudach, Primar der Frauenklinik der Landeskrankenanstalten Salzburg (St. Johannsspital) gestellt.

Herr Professor Staudach, Ihre Geburtenstation – und nicht nur diese – ist weithin vorbildlich für ihre medizinischen Erfolge wie für den Umgang mit Gebärenden und Neugeborenen. Historisch gesehen galt Geburt über Jahrhunderte als eine mit vielen Gefahren verbundene Leistung der Frauen. Vom 19. Jahrhundert an übernahmen Ärzte die Regie, die Frauen wurden dabei zu „Behandelten“. Spielfilme aus der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute etwa zeigen die daraus erwachsenen populären Vorstellungen, nämlich Geburten als plötzlich einsetzende Schockerlebnisse, denen Frauen hilflos ausgesetzt sind.Warum erleben in Ihrer Frauenklinik Frauen und deren Familien Geburt wieder als ein intimes Ereignis, an dem sie selbst aktiv beteiligt sind?

Wir versuchen seit Jahren einer Philosophie zu folgen, die dem Grundprinzip der Natürlichkeit folgt, mit dem Rücken deckenden Bereich von Sicherheit, das heißt: Frauen fragen mich immer: „Werden Sie mich entbinden?“. Und ich sage immer: „Nein, sie bekommen ihr Kind selbst und wir werden versuchen, ihnen das Gefühl zu geben, dass Sicherheit vorhanden ist.“ Denn ich glaube, dass man diesen Sicherheitsraum braucht, um möglichst natürlich selbst das Urvertrauen zu bekommen, sein Kind zu gebären.

Die Hebammen sind in dieser Position ein Zwischenbereich. Das heißt, der erste, primäre Kontakt in unserem Haus ist die Beziehung zwischen der werdenden Mutter und der Hebamme. Aber auch dieses Team weiß im Hintergrund integriert den Arzt oder die Ärztin als Sicherheitspuffer bei auftauchenden Problemen.

Ich rate Frauen, sich in diesen neun Monaten der Vorbereitung Strukturen zuzuwenden, in denen ihnen auf der einen Seite Information geboten wird, ihnen aber auf der anderen Seite nicht vorgegaukelt wird, dass man Geburt „erlernen“ kann, denn sonst entsteht Leistungsdruck. Sprich: es entsteht das Gefühl, wenn ich das richtig mache, werde ich weniger Schmerzen haben. Ich glaube es sollte überhaupt nicht so sein, dass Leistungsdruck entsteht, sondern das Gebären ist ein evolutionärer Prozess. Wir sind mit unserer menschlichen Rasse das zweithäufigste Säugetier und davon entbinden mehr als 99 Prozent ohne Gynäkologen. Sprich: das Phänomen „Geburt“ ist von der Evolution her ein perfekt organisiertes Ereignis. Und dass in einer sozialen Struktur, wo man vielfach nur noch ein einziges Kind bekommt, der Anspruch entsteht, mit möglichst großer Sicherheit ein gesundes Kind zu bekommen, ist legitim. Aber trotzdem darf dabei das Selbstvertrauen nicht verloren gehen, dass dieses Ereignis von der werdenden Mutter selbst geschafft wird und dass der Beistand, der auch ein historischer ist – der Hebammenberuf ist ein extrem alter Beruf – vorhanden ist und die ärztliche Komponente für die Sicherheit im Hintergrund zur Verfügung steht.

Hier habe ich noch einen Wunsch, und das ist das für uns leidige Thema Geburtstermin. Der Geburtstermin geistert seit Jahrhunderten oder zumindest seit einem Jahrhundert durch die soziale Struktur als ein Faktum, auf das man sich konzentriert, und nicht nur die Frau oder der Vater, sondern das gesamte Umfeld.

In Wahrheit entbinden nicht einmal ganze vier Prozent an dem errechneten Geburtstermin. Im klinischen Alltag macht das Fixieren auf den Geburtstermin ungeheuer viel Druck, Forderung nach Reaktion, wenn dieser Termin überschritten ist. Und das, obwohl der Mensch als genetisches Individuum nicht mit einem Termin, der auf Grund einer Schablone und Erfahrungswerten errechnet worden ist, aburteilbar ist. So dass wir als Bitte hätten, mehr Öffentlichkeitsinformation zur Unsicherheit des Geburtstermins, und daraus resultierend mit weniger Leistungsdruck zu reagieren, wenn er überschritten ist. Denn ohne Frage ist eine natürliche Geburt zehn Tage nach dem überschrittenen Geburtstermin das unkompliziertere Ereignis als der eingeleitete Akt der Intervention am Termin.

Das zweite Thema wäre das Thema Wunschsektio [Anm.: landläufig „Kaiserschnitt“]. Hier glaube ich allerdings, dass das ein hausgemachtes Thema im Medizinbereich ist, denn die Frage, ob ich es mir zutraue, ein Kind normal zu bekommen, oder ob ich es mir wünsche, das überhaupt nicht zu versuchen, sondern durch einen operativen Akt mein Kind zur Welt zu bekommen, ist eine Frage eines gemeinsamen Aufklärungsprozesses, der neun Monate dauert. Von der medizinischen Seite her ist es ohne Frage ein Thema, mit dem man schwer umgeht, weil es praktisch bedingt, dass der natürliche Vorgang „Ich bekomme mein Kind“ ersetzt wird durch einen Körper verletzenden Eingriff eines Arztes, von dem ich fordere, mich aufzuschneiden, um das Kind zu bekommen.

Wenn hier die Dinge in Richtung Wunschsektio gehen, dann ist es, glaube ich, Aufgabe der Medizin und des Betreuungssystems, durch entsprechende Aufklärung und ehrliche Kommunikation zu erreichen, dass sich jemand zutraut, sein Kind selbst zu bekommen, zumal wir ja für Schmerzen ein flankierendes System haben, das im Bedarfsfall dieses Problem löst.

In unserer Zeit der medialen Begleitung und permanenten Dokumentation des eigenen Lebens macht die Kamera auch vor dem Kreißen nicht halt. Wie gehen Sie mit diesen Wünschen um?

Ich glaube, man kann in einer sozialen Struktur, in der mediale Vermittlung 90 Prozent des Alltags ausmacht, nicht hergehen und plötzlich bei einem derartig einschneidenden Ereignis sagen: „Stopp, ich verbiete es!“. Hier muss jeder selbst wissen, was ihm hilft, was er als Stütze braucht, was ihm Freude macht, so dass wir völlig offen sind für Videoaufzeichnungen, für Fotografieren bei der Geburt; ja sogar denen, die keinen Fotoapparat haben, routinemäßig ein Bild von Mutter, Kind und Vater anbieten. Wobei wir allerdings natürlich sehr oft erleben, dass es zu einem überzogenen medialen Anspruch kommt.

Nehmen wir ein Beispiel: beim ersten Ultraschalluntersuchungskontakt kommt oft der Wunsch, einen Videofilm zu machen. Das ist weder unsere Aufgabe, noch haben wir die Zeit dazu, hier eine fortlaufende Dokumentation der Schwangerschaft zu machen, die ja primär Demonstrationsbedürfnissen entspringt. Wir sehen primär die Zeit, die uns zur Verfügung steht, als einen Faktor, den wir zu nutzen haben, um Ängste abzubauen, um Unsicherheiten zu bereinigen, aber nicht, um mediale Aufbereitung zu organisieren. Dort aber, wo die mediale Vermittlung, das Bild, der Film vom Elternteil – vom Vater in den meistens Fällen – selbst gewünscht wird, sind alle Türen offen. Ich habe also noch nie zu jemandem gesagt: „Sie dürfen hier nicht filmen, sie dürfen hier nicht fotografieren.“

Ich glaube nicht, dass man heute Fotografieren an der Klinik verbieten kann, wenn man weiß, dass zuhause wahrscheinlich am Tag zigmal der Fotoapparat läuft. Sollte tatsächlich ein wissenschaftlicher Hintergrund da sein, der Fotografieren mit Blitzlicht als Schaden erkennt, dann wäre es Aufgabe der Gesundheitssysteme das publik zu machen. Bislang liegt eine solche Aufforderung oder Dokumentation nicht vor und daher haben wir auch keinen Handlungsbedarf, hier regulativ einzuschreiten.

Ein Neugeborenes braucht in den ersten Tagen und Stunden besondere medizinische Betreuung, es ist schützenswert und zart. Gleichzeitig ist es Teil einer Familie, eines sozialen Umfeldes, das meist freudig begrüßt und bestaunt wird. Wie lassen sich diese Bedürfnisse und Notwendigkeiten in einer Klinik vereinbaren?

Sie sprechen ein Riesen-Problem an. Das Problem ist, dass auf der einen Seite das Bedürfnis besteht und auch mit Recht besteht, schon möglichst früh Sicherheit zu haben. Zum Beispiel waren früher etwa Hüftleiden, weil sie nicht früh genug aufgedeckt wurden, eine bleibende Schädigung. Heute ist das vermeidbar, weil man einen Hüft(ultra)schall macht. Früher waren Ohrenschäden bei Kindern oft zu spät erkannte Probleme; das verhindert man heute, indem man ein Hörscreening macht.

Im Prinzip sind die Mütter in der kurzen Zeit, die sie nach der Geburt bei uns verbringen, praktisch abgedeckt mit Screeningtests, Augentests, Hörtests, Hüftschall, mütterlicher Rückbildungsgymnastik. Sie und wir sind drei bis vier Tage voll engagiert, nur um den medizinischen Aspekt der Sicherheit abzudecken. Dass darunter ohne Frage schon in den ersten Tagen im einen oder anderen Fall die individuelle Rahmenstruktur leidet, ist klar. Deshalb haben wir eine integrative Wochenbettstruktur aufgebaut, sprich: wir versuchen Mütter zu motivieren, die Kinder unter betreuender, flankierender Struktur 24 Stunden in ihrem Zimmer zu haben. Wir sind aber auch gerne bereit, wenn dies auf Grund von Überlastung nicht möglich ist, Ausweichstrukturen zu bieten.

Aber ohne Frage ist in der heutigen sozialen Struktur dieses eine Kind, [Anmerkung: in einer Gesellschaft in der Einzelkinder vorwiegen] das extrem zu behüten und abzuchecken ist – von der Anspruchsseite der Eltern her – sicher nicht mehr in der harmonischen, ruhigen Struktur, in der das früher bei der Hausgeburt war. Ich muss aber auch dazu sagen, dass die gleichen Kinder, die früher in einer harmonischen Struktur bei der Hausgeburt waren, mit 14 Jahren dann oft ein nicht mehr korrigierbares Hüftleiden hatten. Das ist heute verhinderbar. Also hier ist heute ein Mittelweg zu finden zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Geborgenheit auf der anderen Seite.

Was ich anstrebe und auch immer so artikuliere, das ist „Hausgeburt im sicheren Bereich der Klinik“. Wie sehr das konsumierbar ist, hängst natürlich auch von einer persönlichen, familiären Umfeldstruktur der Patienten ab. Sprich: es ist ja nicht nur das Paar, das hier integriert ist – es ist ja auch die Mutter, die Schwiegermutter, der Vater, es sind die anderen Kinder –, und unsere Möglichkeiten, diese Größen, die Einflussfaktoren, die Stressfaktoren abzuchecken, sind ja ganz gering. Hier war die frühere Zeit – der Hausarzt, der die Familie, der die Infrastruktur gekannt hat – sicherlich die individuellere und die intimere Betreuungsform, aber sie war auch bei weitem weniger sicher. Und hier müssen wir vor allem einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Intimität schaffen.

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