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Den Menschen Räume geben (Martin Wiedemair)[5262]

Den Menschen Räume geben. Bildungswochen als Beispiele sozio-kultureller Arbeit in den Gemeinden

Bildungswoche in St. Margarethen im Lungau: Einen Nachmittag lang stellen sich die Ortsteile vor. Alles ist auf den Beinen. Nach einer Art Sternwanderung trifft man sich auf dem Dorfplatz. Und alle versuchen, das Spezifische ihres Ortsteiles in das Gemeinsame des Ortes mit Phantasie einzubringen: Kleidung, Handwerk, Bauliches, Kunst, … Am Ende steht ein buntes Bild, manche Überraschung und viel Gesprächsanlass.

Bildungswoche in Puch: Hier geht‘s die ganze Woche um das Thema „Generationen verbinden“. Es geht um sehr konkrete Fragen: wie die Pensions- und Sozialsysteme der Zukunft finanziert werden sollen, wie Alt und Jung miteinander auskommen. Es geht um Anregungen zu gegenseitiger Kommunikation, es geht um Integration, um ein Stück Lernen, sich in den Anderen hinein zu denken.

Bildungswoche in Abtenau: Auf dem Programm steht das Thema „Gemeinschaft in der Vielfalt“. Um die 200 Abtenauerinnen und Abtenauer, Einheimische und aus dem ehemaligen Jugoslawien Zugezogene etwa im gleichen Anteil, treffen sich im brechend vollen Pfarrzentrum zu gegenseitigem Kennen lernen und kultureller Begegnung. Es wird ein Abend, wo man darüber redet, wie Zugezogene und Einheimische einander sehen, wo man über Trennendes und Verbindendes diskutiert und die Sichtweise des Anderen für manches Aha sorgt. Es ist ein Abend des kulturellen und kulinarischen Austausches und langer, ungezwungener Gespräche.

Drei Bildungswochen. Drei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. Drei Beispiele für die Vielfalt der Themen, vor allem aber für die Idee, die hinter der Veranstaltungsform „Bildungswoche“ steckt: zum einen – mit nach wie vor hohem Stellenwert – die Aufbereitung und Bearbeitung aktueller Themen aus der unmittelbaren Lebensumwelt, aus der Gemeinde und aus der Region; zum anderen: die Bildungswoche als Prozess von Begegnung, Gespräch, Frage und Auseinandersetzung in der konkreten Lebenswelt der örtlichen Gemeinde. „Die Menschen wollen Raum haben für sich, für ihre Gedanken, Gefühle, Sorgen, Freuden … sie wollen (diesen) ihren Raum selber besiedeln“.[5263] Was der Wiener Psychotherapeut Alfried Längle als zentrales Anliegen für das Zusammenleben in ländlichen Regionen formuliert, will die Bildungswoche ein Stück weit umsetzen helfen.

Grundlagen

Bildungswochen haben sich als typische didaktische Form für relativ kleinräumige, überschaubare Gemeinwesen (Gemeinden, Dörfer, Ortsteile) entwickelt. Die bewusste, wenn auch nicht ausschließliche Bezogenheit auf eine bestimmte Sozietät – meistens eine Ortsgemeinde – bildet ein wichtiges Hauptmerkmal. Bildungswochen finden ihren theoretischen Hintergrund im so genannten „Lebensweltansatz“ zum einen und im Ansatz gemeinwesenorientierter Bildungsarbeit zum anderen.

Das Konzept der lebensweltorientierten Erwachsenenbildung und Kulturarbeit geht, wie der Name schon andeutet, aus von den sozialen, kulturellen, ökonomischen Gegebenheiten der in einem konkreten Raum lebenden Menschen. Es geht darum, dass die Betroffenen selber, die Bewohnerinnen und Bewohner gleichsam ihr Schicksal selber in die „Hand“ nehmen. Systematisch aufbereitetes Wissen weiter zu geben ist nicht primäres Ziel. Jenes ist vielmehr – oder höchstens – Hilfsmittel, um konkrete, unter den Nägeln brennende Fragen kompetent bearbeiten zu können. Im Vordergrund stehen die – zugegeben subjektiven – Erfahrungen, Fragen und Anliegen der Menschen. Sie sollen in der Kommunikation mit den anderen und unter Zuziehung von Experten-Wissen in größeren Zusammenhängen vernetzt bzw. geklärt werden.

Der gemeinwesenorientierte Ansatz sieht – ganz ähnlich – die Menschen eingebettet in ihre ökologische, soziale, ökonomische und kulturelle Lebensumwelt. Hier spielt sich ein Großteil des Lebens ab. Hier kommen die Fragen und Probleme des Zusammenlebens, der Lebensraumgestaltung, der Begegnung verschiedener Formen des sozio-kulturellen Lebens, das „Zu-Hause-Sein (der Menschen von heute) in mehrschichtigen Kultursphären und Lebensalltagen“[5264] konkret zum Ausdruck. Gemeinwesenorientierte Bildungs- und Kulturarbeit beruht folglich wesentlich auf der Ermöglichung von Teilhabe möglichst großer Bevölkerungssegmente bei der Bewältigung eben dieser Probleme und Fragestellungen „vor Ort“.

Dezentrales Handeln als Nutzung der Potentiale der örtlichen Bevölkerung, vernetztes und abgestimmtes Vorgehen in der jeweiligen Situation und die Organisation der Vorgänge in Prozessen, die sowohl für die Bevölkerung als auch didaktisch möglichst offen und partizipativ gestaltet werden, stellen die leitenden Prinzipien dafür dar.[5265]

Fakten

Knapp 700 Bildungswochen wurden seit dem Start dieser Veranstaltungsform in Salzburg im November 1961 vorbereitet und durchgeführt. Seither haben rund 1 Million Menschen Veranstaltungen bei Bildungswochen besucht. Rund 5.500 Einzelveranstaltungen kann man in den Bildungswochenprogrammen nachzählen. In 108 der 120 Salzburger Gemeinden wurde mindestens eine, in sehr vielen Gemeinden bis zu zehn und mehr Bildungswochen ausgerichtet.

Die Themen haben sich im Laufe der Jahrzehnte im Einzelnen stark verändert und – so eine These, die zu überprüfen wäre – sie spiegeln weithin die jeweils bestimmenden Themen ihrer Zeit und der Region im Laufe der Jahre wider. Die Schwerpunkte jedoch sind weitgehend gleich geblieben: Kulturelle Angebote im weitesten Sinne, Fragen des Zusammenlebens im Ort und alles, was sich um den Lebensraum Gemeinde dreht, bestimmten und bestimmen das inhaltliche Profil von Bildungswochen.

Drei vergleichbare TeilnehmerInnen-Befragungen des Salzburger Bildungswerkes zu Bildungswochen aus den Jahren 1996–2000 (Strobl, Rauris, Hüttau) zeigen, dass Bildungswochen zu einem enorm hohen Prozentsatz als Veranstaltungsform für die Gemeinde und ihre Bürgerinnen und Bürger gesehen werden. Es gibt also nicht „die“ Bildungswoche schlechthin. Im Sinne des oben erwähnten Lebenswelt-Ansatzes aber gibt es die Kuchler, die Strobler, die Zederhauser, die Niedernsiller, die Leopoldskroner, … Bildungswoche.

Der Veranstaltungsrahmen ist weitgehend überall gleich: zeitlicher Umfang von rund einer Woche, Wechsel von Bildungs- und Kulturangeboten, von Vortrag und Aktivierung. Variabel, variantenreich und gleichsam auf den Ort „zurecht geschneidert“ jedoch sind die inhaltliche und methodische Ausgestaltung, der Termin oder die Veranstaltungsdichte.

Für zahlreiche Entwicklungen und Themen waren und sind Bildungswochen nachhaltige Impulsgeber. Als Beispiele können die Ortsentwicklung (heute weitgehend: Dorf- und Stadterneuerung),zahlreiche örtliche kulturelle Initiativen (Gründung von Theatergruppen, Chören, Kulturinitiativen, …), Bewusstseinsbildung für die Ortsgeschichte oder – neuerdings – Anstöße für die Agenda 21 angeführt werden. Es zeigt sich, dass sozio-kulturelle Projekte wie die Bildungswoche sehr wohl Bewusstsein in Gemeinwesen längerfristig verändern und Handlungsimpulse setzen können – und dies beileibe nicht nur in unverbindlichen Bereichen.

Das Konzept

Das Konzept „Bildungswoche“ greift also weit über das bloße Anliegen, vorhandene Informationsbedürfnisse kognitiv abzudecken, hinaus. Aspekte, wie Integration im Gemeinwesen, (soziale, historische oder kulturelle) Identität schaffen, Lebens- und Wertorientierungen anbieten, zum Denken in Zusammenhängen anregen oder das Bemühen um Aufbau und Pflege einer Gesprächs- und Konfliktkultur bilden wesensbestimmende Merkmale der Bildungswoche.

Bildungswochen sind Lernorte in einem sehr umfassenden Sinne: Gelegenheiten sozialen Lernens, Anlässe für das Lernen voneinander und miteinander, „Orte“ für handelndes Lernen. Sie sind „Orte“ für Bildungsanlässe in einem ganzheitlichen Bildungsverständnis, das den Menschen eben als Ganzheit von Leib, Seele und Geist begreift.

Bildungswochen sind Orte, wo Brücken gebaut werden. Brücken zwischen Bildung und Kultur: die Verflechtung von Bildung und Kultur wird hierzulande in wenigen anderen Projekten derart deutlich erkennbar und erlebbar. Bildungswochen sind Brücken zwischen verschiedenen Lebensformen oder kulturellen Äußerungen und Gestaltungsformen: Sie erhalten hier Raum, sich zu begegnen und in einen Dialog zu treten. Sichtbar wird dies unter anderem daran, dass sich bei praktisch jeder Bildungswoche ein großer Teil aller örtlichen Gruppen und Vereine – Musikkapellen, Schützen, Chöre, Trachtengruppen, Kulturvereine, ... aktiv beteiligen. Brücken zwischen den Generationen; Brücken zwischen Bevölkerungsgruppen im Lebensraum Gemeinde – etwa Einheimische und Zugezogene oder Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Ortsteile; Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen in der Gemeinde.

Heute werden Bildungswochen als mittelfristige Projekte verstanden, denen eine mehrmonatige, ja häufig eine ganzjährige Vorbereitung vorausgeht. Den Ausgangspunkt bilden Fragen, Eigenheiten, Problemlagen und Strukturen im jeweiligen Gemeinwesen, in der konkreten Lebensumwelt. In der so genannten „Kerngruppe“ werden die Situation des Ortes analysiert, Maßnahmen für Bildung und Kultur abgeleitet und im quasi „sichtbaren“ Teil, in der Bildungswoche, realisiert.

Die Erfahrung zeigt, dass gerade der mitunter sehr intensive und zeitaufwändige Such- und Gesprächsvorgang in der Planung hohe Nachhaltigkeit besitzt. Hier werden neue Netze zwischen Menschen und Gruppen „geknüpft“ sowie Impulse gesetzt, die mitunter weit über die Bildungswoche hinaus wirken und vor allem die soziale Infrastruktur der Gemeinde entscheidend positiv beeinflussen können. Von hoher Bedeutung ist dabei die Einbindung möglichst aller Gruppierungen und Kräfte.

Wie schon erwähnt, zielt die Bildungswoche ihrem Wesen nach auf die ganze Gemeinde als soziales, ökologisches, wirtschaftliches, historisches und kulturelles Gebilde ab. Um diesem Anspruch in der Realisierung gerecht werden zu können, sind Sensibilität für die ortsspezifischen Strukturen und „Kräfteverhältnisse“ ebenso gefordert, wie die Offenheit für Einzelinitiativen, für Unkonventionelles und Neues. Dies erfordert – als verbindendes Element – eine tragfähige Konfliktkultur, die Widersprüche nicht zudeckt, Spannungen aushält, Respekt fördert und den Konsens als ehrliche Möglichkeit sucht.

Bedeutung

Bildungs- und Kulturarbeit in diesem Sinne heißt im Besonderen, die überall vorfindbaren Polaritäten etwa zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Tradition und Veränderung, zwischen den Interessen Einzelner und dem Ortsganzen, sensibel zu orten und zu thematisieren. Das Schlagwort vom „Vernetzten Denken“ wird hier ganz untheoretisch deutlich und erfahrbar: die engen Zusammenhänge von Arbeit, Freizeit, Tradition, Geschichte, Kultur, Wirtschaft, Politik, Sozialem.

In seinem Buch „Bildung“ beschreibt der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig „Quellen bildender Wirkung“. Ich möchte sie in Auszügen und stark verkürzt für die Formen sozio-kultureller Arbeit in unseren Gemeinden wie sie in Bildungswochen geschieht, zusammenfassend als Merkmale und Zielvorstellung reklamieren[5266]:

  • „Das Gespräch“, die offene, diskursive Auseinandersetzung mit anderen über eine Sache und das Bemühen, den anderen zu verstehen.

  • Die „Generierung“ von Lebens-Wissen (um nicht zu sagen: Lebensweisheit) in einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der Wissen in den Informationslawinen zu ersticken droht.

  • „Geschichten“ („Die Menschen leben von Geschichten nicht weniger als vom Brot“) als Anstoß, sich mit der eigenen Biografie aber auch mit der Biografie des Lebensraumes zu befassen.

  • „Musik und bildende Kunst“ als Beitrag zur Bildung des Empfindens für Schönheit, Geschmack und Fähigkeit zu ästhetischer Kritik.

  • Das „Feste feiern“, die fröhliche und zweckfreie Zuwendung der Menschen zueinander und schließlich

  • „Der Aufbruch“ in neue, andere Gedankenwelten, in neue Projekte; der Aufbruch auch als „Gegenwelt“ zur Resignation.

Das Dorf soll für „unsere rasende Gesellschaft und seine gehetzten Individuen einen Sicherheits- und Rückzugsraum bieten“. Hier sollen Dinge geregelt werden, die sonst nirgendwo mehr geregelt sind, Strukturen bewahrt werden, die sonst überall am Schwinden sind, analysiert der Sozialwissenschaftler Albert Herrenknecht.[5267] Jeder Ort und jede Sozietät ist heute mit diesem Anspruch wahrscheinlich überfordert, schon deshalb, weil er letztlich nicht herstellbar ist. Lebensweltorientierte Bildungs- und Kulturarbeit ist eine der Voraussetzungen, um dieses Ziel überhaupt ins Auge fassen zu können – kein Hebel aber ein guter Drehpunkt. Entscheidend sind allemal Menschen. Menschen, die Motoren von Ideen sind, Menschen die begeistern und begeisterungsfähig sind, Menschen, die (soziale, kulturelle, kommunikative) Netze knüpfen und zum „Schwingen“ bringen. Wenn unsere Orte als Räume „gespeicherter Lebenshoffnungen“[5268] erhalten und fortentwickelt werden sollen, ist soziokulturelle Arbeit wie sie etwa in den Bildungswochen geschieht (über)lebensnotwendig und Menschen, die dies leisten, unverzichtbar.



[5262] Zeitschrift Salzburger Volkskultur, 26. Jg., November 2002, S. 15–18.

[5263] Längle, Alfried: Ist Kultur machbar? Die Bedürfnisse des heutigen Menschen und die Erwachsenenbildung. In: Autonome Provinz Bozen, Assessorat für Unterricht und Kultur für die deutsche und ladinische Volksgruppe (Hrsg.), Dokumentation und Bericht des 2. Internationalen Kongresses „Kulturträger im Dorf am Beispiel alpenländischer Regionen“. 1.–5. Juni 1992, Bozen 1992, S. 68.

[5264] Herrenknecht, Albert: Die Menschen als zentrale Kulturträger im ländlichen Raum. In: Ebda, S. 106.

[5265] Vgl.: Kreisbildungswerk Bad Tölz-Wolfratshausen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung in der Erzdiözese München und Freising (DIAG) (Hrsg.), Abschlussbericht zum Projekt Eb-lokal, Konzepte und Projekte gemeinwesenorientierter Erwachsenenbildung im Zeitraum von 1993–1995. Bad Tölz 1995, S. 19.

[5266] Vgl.: Hartmut von Hentig: Bildung, München 1996, S. 104ff.

[5267] Herrenknecht, Albert: Die Menschen als zentrale Kulturträger im ländlichen Raum, S. 107f.

[5268] Herrenknecht, Albert: Die Menschen als zentrale Kulturträger im ländlichen Raum, S. 108.

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