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4.18. Der Heilige Josef. Vom Breikocher zum Muskelmann (Konrad Köstlin)[1231]

4.18.1. Kurztext[1232]

4.18.1.1. Der heilige Josef im Wandel der Zeit

Aus den älteren Weihnachtsdarstellungen kennt man den heiligen Josef als eher betagten Nährvater Jesu, der im Hintergrund bleibt. 1621 wird der 19. März als Namenstag Josefs Feiertag der katholischen Kirche. Seit dieser Zeit findet man Josef bereits als Berufspatron der Zimmerleute und Holzarbeiter. Josef wird nun für die Habsburger und die Bevölkerung zum „Modenamen“, und er wird Landesheiliger (Landespatron) von Tirol, Steiermark, Kärnten und Vorarlberg. Diese Namensgebung ist Teil der polit-religiösen Rekatholisierung Österreichs.

Josef, der sich seit dem Barock zunehmend nach vorne gearbeitet hat, wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig zum „Star“ am Heiligenhimmel. Er nimmt, nachdem er 1870 zum Schutzpatron der gesamten katholischen Kirche ausgerufen worden war, nun einen Maria fast ebenbürtigen Rang ein. Auf dem Höhepunkt des Josefskultes Ende des 19. Jahrhunderts ist der Heilige ein fleißiger Arbeiter und das Oberhaupt der Familie: ein junger, kräftiger Mann. In den späten 1920er- und 1930er-Jahren, als er zum Muskelheiligen wird und seine expressive Männlichkeit durchaus in die Nähe faschistischer Menschenbilder jener Zeit kommen kann, erfährt das Bild des Heiligen noch einmal eine Akzentuierung.

4.18.1.2. Josef, Patron der Arbeit

Im 19. Jahrhundert setzt die Kirche die soziale Seite des Lebens Josefs gegen die aufkommende sozialistische Arbeiterbewegung ein. In Gebetbüchern der Zeit Maria Theresias erscheint Josef nur als Nebenfigur, doch Ende des 19. Jahrhunderts ist der Heilige eine Hauptfigur. Die Arbeiterfrage wird zum zentralen sozialen Problem des sich entfaltenden Kapitalismus. In dieser Auseinandersetzung wird die Heiligenverehrung von der Kirche gezielt als Mittel im Klassenkampf eingesetzt. Die bereits in den 1840er-Jahren einsetzende Reformbewegung der katholischen Kirche wird verstärkt und sie markiert den Anspruch auf eine Zuständigkeit der Kirche in sozialpolitischen Fragen. Der 1870 zum Schutzpatron der gesamten Kirche erhobene Josef von Nazareth wird zum „Sozialheiligen par excellence“.

Populäre Drucke verbreiten Bilder und formen eine hoch elastische Josefsfigur: kraftvoll und jung wie auch bescheiden und verinnerlicht. Josef erscheint immer häufiger als starker und eher jüngerer Mann in seiner Werkstatt. Er wird zum moralischen Muster einer christlichen Männerrolle. 1955 wird der 1. Mai, der seit 1890 als Tag der internationalen Arbeiterbewegung begangen wird, ein zweiter Festtag des Heiligen: So steht Josef seither zweimal im Kalender: als Nährvater Jesu und Mustermann christlichen Familienlebens am 19. März sowie als Josef der Arbeiter am 1. Mai.

4.18.2. Langtext

4.18.2.1. Avant propos

Diese Skizze zum heiligen Josef und seiner Familie will nicht eine Gattung von Bildern behandeln, sondern versucht Bilder, ihre Inhalte und die Veränderung ihrer Motivik kultur- und gesellschaftsgeschichtlich einzuordnen. Der Akzent liegt auf den Gebrauchs- und Umgangsweisen durch die Mehrheit der Bevölkerung. Deshalb soll auch nach den Agenturen solcher Bildofferten gefragt werden. Denn die Darstellungen dienen – so die Intention – der Bildkatechese.

Europäische Ethnologie, als Kulturwissenschaft verstanden, lässt sich nicht auf „das Volkstümliche“ reduzieren, sondern verlangt als Kulturwissenschaft den Ausgriff auf den Fundus der (in diesem Falle religiösen) Bildproduktion insgesamt. Hier lassen sich lokale und regionale Spezifik in europäische Zusammenhänge einbringen. Dabei stellt sich die Frage nach dem Gemeinsamen einer europäischen Entwicklung, die sich bei dem Heiligen und seiner Familie deutlich zeigt. Josef und seine Familie sind nicht nur ein europäisches Thema. Der römische Dogmenzentralismus macht es zum Gegenstand einer sich als weltumfassend verstehenden Katholizität. Dennoch scheint neben dem Gemeinsamen auch Raum für die lokale und regionale Spezifik zu bleiben. Das mag das Thema, am Beispiel Wiens aufgezeigt, illustrieren.

4.18.2.2. Metamorphosen des Heiligen im herrschafts- und gesellschaftspolitischen Kontext

In den älteren Weihnachtsdarstellungen kennt man den heiligen Josef als eher betagten Nährvater Jesu: Er steht oder liegt gar schlafend am Rande. Im Mittelpunkt der Krippendarstellungen stehen das Kind, Maria und die Drei Heiligen Könige. Ähnliches gilt für die Flucht nach Ägypten, das bleibt so bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Josef bleibt im Hintergrund, meist als Greis und oft kleiner abgebildet. Im – wenn man so will ideologisch – rückständigen Hinterglasbild aus Buchers geht der klein dargestellte, unwichtige Josef hinterher, auf den jüngeren Lithografien dagegen führt er die Familie deutlich an.

Die Evangelien nehmen nach der glücklichen „Auffindung“ des 12-jährigen Jesus im Tempel („Osterwallfahrt“) keine Notiz mehr von ihm. Gegen Ende des Mittelalters taucht Josef auf Bilddarstellungen vom Leben Jesu wieder auf. Ein Schlussstein in der Nürnberger Marienkirche (14. Jahrhundert) zeigt den ersten Schultag Jesu – noch ohne Josef – typologisches Muster aller späteren Bilder vom „heiligen Wandel“.[1233]

Seit dem Jahre 1621 ist der 19. März als Namenstag des Heiligen gebotener Feiertag der katholischen Kirche. Auf Visionen der heiligen Theresia von Avila gründen sich Darstellungen Josefs mit dem Jesusknaben auf dem Arm und dem Attribut der Lilie. Josef, ein bescheidener, alter Mann, der keusche „Nährvater“, ist der zahnlose Breikocher. Die keusche Beziehung zu Maria ist in dem Wort „Josefsehe“ angedeutet, die im Druck von 1893 dann doch als eine richtige Vermählung familiarisiert wird.[1234] Seit dieser Zeit findet man Josef, den Zimmermann, als Berufspatron der Zimmerleute und Holzarbeiter mit den Attributen Beil oder Säge. Josef gilt auch als Patron für ein gutes Sterben, in Franken wird der sterbende Josef Gegenstand bildlicher Darstellungen.

Der Name der 1703 gegründeten Wiener Josefstadt und Josef als Taufname der Habsburger – und dann auch als populärer Taufname – erinnern daran, dass feudal-politische Zeichen gesetzt werden sollten. Als 1678 der Sohn Kaiser Leopolds I. geboren wurde, nannten ihn seine Eltern Josef nach dem 1621 neu definierten und mit einem Festtag ausgezeichneten Heiligen. Josef wird für die Habsburger und für die Bevölkerung des Kaiserreiches zum „Modenamen“.[1235] Diese Namensgebung ist Teil der polit-religiösen Rekatholisierung Österreichs, der Name „Josef“ macht Karriere. Im ehemaligen habsburgischen Belgien kennt man eine Pfarre des 19. Jahrhunderts, in der 81 % der Knaben den Namen „Josef“ tragen und 88 % der Mädchen „Maria“ als ersten, zweiten oder dritten Namen erhalten.[1236] Josef wird Landesheiliger in den österreichischen Ländern Tirol, Steiermark und Vorarlberg.

Im 19. Jahrhundert akzentuiert die Kirche in einer bemerkenswerten Kehre die soziale Komponente der Vita des Heiligen und aktiviert sie gegen die aufkommende sozialistische Arbeiterbewegung.[1237] Papst Pius IX. proklamiert Josef 1870 zum Patron der gesamten Kirche. Die neu gegründeten katholischen Gesellen- und Arbeitervereine machen ihn zu ihrem Patron. Nun kann – in diesem neuen Kontext – Josef nicht mehr bloß der milde, alte Mann mit der Lilie und dem Kind auf dem Arm sein. Er arbeitet und sein Sohn hilft ihm. Im Bildprogramm der Andachtsbilder und der eben erfundenen und in den Bilderfabriken hergestellten Chromlithografien, die als Wandschmuck dienen, dann auch in Kalendern, erscheint Josef immer häufiger als starker und eher jüngerer Mann in seiner Werkstatt.[1238] Bei ihm ist der Knabe Jesus, der ihm zur Hand geht oder mit Holzspänen spielend, diese zu einem Kreuz zusammennagelt. Maria sitzt währenddessen im Hintergrund der Stube am Spinnrad. Oft bereits ist kritisiert worden, dass das abgebildete Familienidyll des selbstständigen Handwerkers mit der sozialen Wirklichkeit der Fabrikhallen der boomenden Industrie und der nun außerhäuslichen Arbeit der Menschen wenig gemein hat.

Jedenfalls: In den vehement propagierten Vereinen zur Heiligen Familie und den Josefsvereinen wird Josef zum moralischen Muster einer christlichen Männerrolle.[1239] In diesen Zusammenhang der Agitation gehören die seit 1890 mitten in die Wiener Arbeiterquartiere gesetzten neuen Kirchenbauten, die dem Heiligen und seiner Familie geweiht sind.

An Josef und der Heiligen Familie orientiert sich der Orden der Kalasantiner des Arbeiterpriesters Anton Maria Schwartz, den Papst Johannes Paul II. 1998 auf dem Wiener Heldenplatz seliggesprochen hat. Der Arbeiterapostel von Wien wird 1852 als viertes von 13 Kindern in Baden bei Wien geboren. Mit 17 tritt er in Krems bei den Piaristen („Orden der Frommen Schulen vom heiligen Josef Kalasanz von der Mutter Gottes“) als Novize ein. Der Gründer der Piaristen, Josef Kalasanz (1557–1648), wird sein Vorbild. Während seiner Priesterausbildung gründet Schwartz 1872 den „Liebesbund“, einen privaten Verein zur besonderen Verehrung des heiligen Josef. Schwartz nimmt, wie sein Vorbild Kalasanz, Maria als zweiten Vornamen an. Anton Maria Schwartz gründet 1882 den „Verein zur Erziehung katholischer Lehrlinge unter dem Schutz des heiligen Josef Kalasanz“ und später den Orden der Kalasantiner mit der Ordenszeitschrift „Das christliche Handwerk“ (1888).

Damit könnte die Geschichte des Heiligen ein Ende haben, während die Heilige Familie selbst in den modernen, säkularisierten Weihnachtsfeiern der Familien in der Praxis des Krippenaufstellens weiterlebt. Doch Pius XII. ordnet 1955 dem Heiligen neben dem 19. März einen zweiten Festtag zu und legt ihn nicht zufällig auf jenen 1. Mai, der seit 1890 als Tag der internationalen Arbeiterbewegung begangen wird. In der Arbeiterbewegung wird dieser vorläufige Endpunkt der Josefskarriere[1240] meist schon nicht mehr wahrgenommen, und Josefs Rolle als Arbeiterpatron ist heute fast vergessen. Jedenfalls steht der Heilige seither zweimal im Kalender: als Nährvater Jesu und Mustermann christlichen Familienlebens am 19. März sowie am 1. Mai als Josef der Arbeiter, dem das Wohlergehen der Arbeiterschaft anvertraut ist.

4.18.2.3. Josef, Patron der Arbeit und Familienvater: ein elastischer Heiliger

Auf dem Höhepunkt des Josefskultes Ende des 19. Jahrhunderts ist der Heilige ein fleißiger Arbeiter und unzweifelhaft das Oberhaupt der Familie: ein junger, kräftiger Mann. Zimmermannswerkzeuge, vor allem Bohrer, Beil, Winkelmaß und Säge sind kaum noch zeichenhafte Attribute, sondern haben sich in benutzbare Werkzeuge verwandelt. Themen wie „Der Hl. Josef in seiner Werkstatt“, dem das Jesuskind bei der Arbeit an die Hand geht, und „Der Alltag der Hl. Familie“, der das vorbildhafte Familienleben zeigt, dominieren die religiöse Kleinkunst, insbesondere die kleinen Andachtsbilder. Noch einmal eine – freilich nicht durchgängige – Akzentuierung erfährt das Bild des Heiligen in den späten 1920er- und 1930er-Jahren, als er – ähnlich wie vor allem der Erzengel Michael (auch auf den Kriegerdenkmälern) – zum Muskelheiligen wird und seine expressive Männlichkeit durchaus in die Nähe faschistischer Menschenbilder jener Zeit kommen kann.

4.18.2.4. Agitation und Klassenkampf

Die Arbeiterfrage wird zum zentralen sozialen Problem des sich entfaltenden Kapitalismus. Die Heiligenverehrung wird in dieser Auseinandersetzung von der Kirche gezielt als Mittel im Klassenkampf eingesetzt. Predigten, Traktate und Hirtenbriefe lassen industriellen Fortschritt, Sozialismus, Liberalismus und Gewerkschaften als religions- und kirchenfeindlich erscheinen. Die bereits in den 1840er-Jahren einsetzende Reformbewegung der katholischen Kirche mit ihrer Wiedereinsetzung und Intensivierung überlieferter Kulthandlungen (Gebete, Gottesdienste, Heiligenverehrung, Männerwallfahrten) wird forciert. Sie markiert den Anspruch auf eine Zuständigkeit der Kirche in sozialpolitischen Fragen. Elisabeth von Thüringen und Antonius von Padua werden Patrone karitativer Vereine. Und der 1870 zum Schutzpatron der gesamten Kirche erhobene Josef von Nazareth wird zum „Sozialheiligen par excellence“ (Gottfried Korff). Ein Hirtenbrief des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1871) stellt den heiligen Josef als Vorbild in den Mittelpunkt.[1241]

Populäre Drucke verbreiten Bilder und formen eine hochelastische Josefsfigur, die sowohl kraftvoll und jung als auch – als Kompromiss und nicht mehr ganz so jung – bescheiden und verinnerlicht erscheint. Der durch die gesellschaftlichen Veränderungen mehr und mehr üblichen Kleinfamilie (Vater – Mutter – Kind) wird die Heilige Familie als Vorbild empfohlen.[1242] An der Figur des heiligen Josef wird die „manipulative Umpolung der Heiligenverehrung“ (Gottfried Korff) vonseiten der Kirche besonders deutlich. Josef, der sich seit dem Barock zunehmend nach vorne arbeitete, wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig zum „Star“ am Heiligenhimmel. Er nimmt, nachdem er 1870 zum Schutzpatron der gesamten katholischen Kirche ausgerufen war, nun einen Maria fast ebenbürtigen Rang ein.

Industriell gefertigte und erschwingliche Andachtsbilder und keramisch gefertigte Heiligenfiguren tragen das Ideal des christlichen Arbeiters auch in die Arbeiterwohnung. Zu den Medien der Popularisierung gehören als Massenliteratur Kalender und Erbauungsschriften, die in moralisierenden Geschichten die wahren Tugenden des Arbeiters wie Fleiß, Anständigkeit, Gehorsam, Genügsamkeit und Gottvertrauen vorgeben.

4.18.2.5. Moderne Medien – alte Inhalte

Die katholische Kirche, die konservative Inhalte vermitteln will, bedient sich modernster medialer Produktionsformen und der Form des Vereins, einer Form der Moderne, um die Massen zu erreichen. Die höchst fortschrittliche Medienoffensive wird durch die Gründungen von Josefsbruderschaften und katholischen Arbeitervereinen (zum Beispiel Kolpingvereine), die unter Aufsicht der Geistlichkeit stehen, gestützt. Der starke Nährvater Josef ist nun eine Figur, an der sich die hierarchisch-patriarchalische Familienideologie hervorragend vermitteln lässt. Die Moderne eröffnet neue Möglichkeiten, lässt alte Muster und neue Formen, wie eben den immer dominanter werdenden jungen Muskelheiligen zu.

Josef also ist das Oberhaupt der Familie, das durch sein Handwerk die Familie ernährt. Maria verrichtet die häuslichen Tätigkeiten. In Bildern bietet die Kirche als Modell die Einheit von Arbeit und Familienleben an. Dies geschieht mittels neu gegründeter Vereine zur „heiligen Familie“. Mit dem modernen Verein nutzt die Kirche ein zeitgenössisches Muster für ein rückwärtsgewandtes Modell. Mit eigens verfassten Gebeten, Predigten und Andachtsbildchen wird ein regelrechter Erziehungskult betrieben. Dazu gehört auch das vermehrte Aufstellen von Krippen im privaten Bereich, das den Familien ihr objektiviertes Familienideal zur Unterweisung ins Haus stellt.

Nach dem Ersten Weltkrieg gibt es – auch gestalterisch – mehr Spielraum. Das Skandalbild von Max Ernst, „Die Jungfrau Maria züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen“, das an sich eine andere Interpretation verdient (André Breton, Paul Elouard und M. E. 1926, Museum Ludwig, Köln), mag das illustrieren. Spätere Heiligen-Figuren können sich faschistischer Muskel-Ästhetik nähern. Gleichzeitig leben ältere Bildmuster weiter. Dennoch überwiegt nun der kraftvolle Josef.

4.18.2.6. Josef und die Heilige Familie als Kirchenpatrone: Agitation durch Architektur

Gewiss ist Agitation durch Kirchenbauten nicht nur eine Wiener Spezifik, denkt man an die Kirche der „Sagrada familia“ des Antonio Gaudi. Doch lässt sich in Wien eine bemerkenswerte Beobachtung machen. Mit dem Ausbau der Stadt Wien findet gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine rege Kirchenbautätigkeit in den Wohnbezirken der Arbeiterschaft statt. Zwischen 1872 und 1884 errichtet die katholische Kirche sieben Kirchen. Die Zahl verdreifachte sich von 1885 bis 1899 auf 25 Gotteshäuser, davon sind sechs dem heiligen Josef und der Heiligen Familie geweiht. Diese dynamische Bautätigkeit wird durch die Amtskirche mit seelsorgerischen Argumenten begründet. Die Bevölkerung Wiens hatte sich von 1850 bis 1880 auf 1,2 Millionen Einwohner verdoppelt. Im „Roten Wien“ der 1920er-Jahre war an einen Kirchenbau nicht zu denken. Damals entstanden in den Arbeiterbezirken die großen sozialistischen Wohnhöfe – gebaute Agitation. Dann aber wird seit 1934 der heilige Josef im klerikalen Austrofaschismus des Ständestaats wieder aktiviert. In Wien-Floridsdorf wird an der Stelle der alten Jakobskirche nun eine Josefskirche errichtet. In einer sogenannten „Gottessiedlung“, dem klerikalen Pendant zu den Wohnhöfen des „Roten Wien“, beginnt man noch 1934 mit dem Bau der Sandleitenkirche, die den Heiligen herausstellt. Vor der 1936 vollendeten Kirche steht ein kräftiger, muskulöser Josef mit der Säge aus Raubeton.

4.18.2.7. Zusammenfassung: Religiöse Kontexte, Bilder, Gebete, Predigten und Vereine

In Gebetbüchern der Zeit Maria Theresias erscheint Josef nur als Nebenfigur. Ende des 19. Jahrhunderts ist der Heilige eine Hauptfigur. Angelehnt an die marianischen Litaneien und Rosenkränze gibt es solche auch für den heiligen Josef. Der Verein „Zur immerwährenden Verehrung des heiligen Josef“ wie auch der „Verein zur heiligen Familie“ stellen Josef in den Mittelpunkt. Mit dem Angebot von Ablässen wird nahegelegt, sich in regelmäßigen Abständen unter den Schutz des Heiligen zu stellen. Andachtsbilder, meist „Heiligenbildchen“ genannt, dienen der privaten Frömmigkeitsübung und werden meist in Gebetbüchern aufbewahrt. Sie belegen Präsenz an heiligen Orten und Handlungen und erhalten eine wichtige pädagogische Funktion: Als Belohnung für besonders gute Leistungen erhielten die Kinder vom Pfarrer oder Religionslehrer Heiligenbildchen („Fleißbildchen“). Am Ende oszilliert der Heilige, nach seiner Spätinstallation des Jahres 1955 zum 1. Mai, zwischen dem Bild eines sanften, soft-alternativ-treuen Mannes und der spirituellen Figur der vergangenen Postmoderne, die beide mit dem strikt patriarchalischen Bild der Moderne wenig zu tun haben. In der Kalasantinerkirche St. Josef in der Reinlgasse, wo der Heilige einmal für die arbeitenden Gesellen zuständig war, ist er fundamentalistisch eingesetzt, da steht nun ein Lilienjosef mit später zugefügter Säge: Ausdruck der Elastizität oder der kuriosen Unentschlossenheit. So wächst ihm – auch bei den Kalasantinern – als Patron einer konservativ-spirituellen Akzentuierung eine neue Aufgabe zu, die sich wiederum der modernen Medien für die Verbreitung konservativer Inhalte bedient.[1243]

4.18.2.8. Ein Nachsatz: Deponia pia

Zu diesem Thema wurde im Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Wien eine kleine Ausstellung gestaltet, die auf Objektmaterial aus Museen verzichten konnte. Denn viele religiöse Objekte sind nicht als Antiquitäten in den Handel gekommen. Man hat sie vielmehr aus Ehrfurcht vor ihrem religiösen Charakter oder auch aus Pietät gegenüber verstorbenen Familienmitgliedern, denen die Dinge heilig waren, bewahrt. Es besteht eine Scheu davor, Objekte der Frömmigkeit einfach wegzuwerfen oder zu vernichten. Diesen respektvollen Umgang mit „heiligen Sachen“ pflegen auch Menschen, die Religion und Kirche distanziert gegenüberstehen. Kruzifixe, Bilder und Statuen von Heiligen, kleine Andachtsbilder, Bibeln, Gebetbücher, Rosenkränze, Weihwasserkessel und andere religiöse Gegenstände landen deshalb nicht auf dem Müll. Man hat sie häufig in Kapellen abgelegt, deponiert, und sie werden in den Familien aufbewahrt. Hans Dünninger hat das als „Deponia pia“ bezeichnet.[1244] Es war daher für unser kleines Projekt nicht schwierig, eine große Anzahl solcher Gegenstände aus Familienbesitz aufzustöbern.



[1231] Erstveröffentlichung: [Köstlin 2001]: Es handelt sich hierbei um Teilaspekte eines gemeinsam mit den Studierenden Claudia Freitag, Andrea Hiden, Daniela Savel, Albin Windbichler und Gertraude Windelmayer durchgeführten Projekts.

[1232] Kurzfassung von Andrea Bleyer.

[1234] Siehe zur Vermählung Josefs ausführlich: [Traeger 1997].

[1236] Z. B. Rainer Maria Rilke, Josef Maria Hotbauer.

[1238] Ein früher Beleg stammt von John Everett Millais (1850, Tate Gallery, London): Christus im Hause seiner Eltern.

[1243] [http://stjosef.at/].

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