Startseite: Bräuche im Salzburger LandFolge 1: Im Winter und zur WeihnachtszeitFolge 2: Vom Frühling bis zum HerbstBegleitheft (in Arbeit)ZitierempfehlungVolltextsucheHilfe

Zwischen Entgrenzung und Aneignung (Ingo Schneider)[126]

Tipp

Klicken Sie bitte HIER, um zur Langtext-Version dieses Beitrags zu gelangen.

Jugendkulturen: Das Projekt „bricolage“

Im Juni 2003 wurde am Innsbrucker Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde die erste Ausgabe der Studierendenzeitschrift „bricolage“ präsentiert. An die Tradition der zwischen 1995 und 2000 erschienenen „Ethnopostille“ anknüpfend, soll das neue Heft Studentinnen und Studenten des Fachs die Möglichkeit bieten, Berichte oder Aufsätze zu veröffentlichen. Daneben möchte sich das Redaktionsteam um Beiträge von Mitarbeitern des Instituts sowie von Europäischen Ethnologinnen und Ethnologen aus dem deutschsprachigen Raum bemühen.

Derzeit steckt das Projekt noch in seinen verbesserungswürdigen „Kinderschuhen“. Die mitarbeitenden Studierenden verstehen sich als „bricoleure“ (Bastler). Ihre Texte sind also nicht das Werk von Profis – „Ingenieuren“ vom Fach –, sondern „bricolage“: ein mehr oder weniger sicherer Anlauf, anhand verschiedener Fundstücke lernend an wissenschaftlichen Diskursen teilzuhaben.[127]

Die Beiträge der ersten Ausgabe haben Jugendkulturen zum Thema. Auszüge lesen Sie auf den folgenden Kurztextseiten, ausführliche Darstellungen finden Sie in den Beiträgen von Ingo Schneider: „Zwischen Entgrenzung und Aneignung“ bzw. Reinhard Bodner: „Über Déjà-vus (in) der modernen Kultur“.

Themenheft Jugendkulturen

In seinem Werk „La pensée sauvage“ („Das wilde Denken“) hat der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss 1962 das Prinzip der „intellektuellen Bastelei“ beschrieben, durch das es in Kulturen ohne Schriftsprache gelingt, verschiedene mythische Fundstücke zu einem neuen, Sinn und Identität stiftenden Gesamtbild zusammenzufügen.[128]

Sein Konzept der „bricolage“ (Bastelei) hat nicht nur den Titel der Innsbrucker Studierendenzeitschrift inspiriert, sondern kann auch in besonderer Affinität zum Thema der ersten Ausgabe, Jugendkulturen, gesehen werden: Auf Lévi-Strauss zurückgreifend wurde besonders in den British Cultural Studies an Fallbeispielen aus den Jugendkulturen untersucht, auf welche Weise Techniken der „bricolage“ Jugendlichen die Möglichkeit bieten, mit der immer stärker werdenden medialen Durchdringung des Alltagslebens kreativ umzugehen.

Diese Fragestellung beschäftigt auch die Beiträge zu „bricolage 1“.[129] Ausgangs- und Anhaltspunkte sind dabei so unterschiedliche Facetten des Themas wie: HipHop als Kulturstil, alternative Formen des Protests, religiöse Motive in der Mode, neue Formen der Jugendsprache im SMS, ein in Innsbruck lebendes Skingirl, vegane Ernährung oder Tiroler Fußballfans.

Jugendkulturen als Forschungsaufgabe[130]

Jugendkulturen sind als Thema sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung weder neu noch besonders originell. Erste Impulse zu ihrer Erforschung gingen von der Chicagoer Schule der „urban sociology“, aber auch von William F. Whytes zum Klassiker gewordenen Feldstudie in einem Bostoner Italienerviertel aus.[131]

In England waren es die Vertreter der sich ab Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts formierenden Cultural Studies von den Literaturwissenschaften kommend mit einem allerdings nur für sie neuen Verständnis von Kultur „as a whole way of life“ und hohen theoretischen Ansprüchen Untersuchungen über jugendliche Teilkulturen erstellten und dabei ein Hauptaugenmerk auf Kulturstile legten.

Als Forschungsfeld für eine Europäische Ethnologie bieten sich Jugendkulturen deshalb geradezu an, weil es sich bei ihnen um globale Phänomene handelt, die gar nicht anders denn aus internationaler Perspektive bzw. zumindest im europäischen Rahmen untersucht werden können. An ihnen lassen sich Konzepte der kulturellen „bricolage“ und der „globalisation from below“ paradigmatisch untersuchen.[132]

Die Entstehung der HipHop-Kultur[133]

HipHop entstand in New York, seine Heimat ist die Bronx, wo sich dieser Kultur- und Lebensstil aus verschiedenen Komponenten, die für sich schon länger bekannt waren, in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre entwickelte. Wie bei anderen Jugendkulturen auch kam der Musik eine Schlüsselrolle zu.

Der HipHop-Sound setzte sich im Wesentlichen aus zwei Grundelementen zusammen: einer neuen Form des „DJings“, bei der Discjockeys (DJs) mit einem Rhythmusgerät, ihren Turntables und verschiedenen Techniken wie „cutting“, „looping“, später auch „scratching“ und „beatjuggling“ und vor allem durch das „sampling“ aus bekannten und unbekannten Stücken etwas kreatives Neues hervorzauberten. Dazu boten die „MCs“, die „Masters of Ceremony“, eine Show aus gesprochenen Reimen, markanten Sprüchen und Kommentaren über den DJ und das Publikum. Für dieses ursprünglich frei improvisierte, rhythmische Reimen bürgerte sich die Bezeichnung „Rap“ ein. Rappen verlangt die Fähigkeit zur verbalen Improvisation, es hat häufig den Charakter von Duellen. Diese „battles“ fanden und finden nicht nur zwischen den „Rappern“, sondern ebenso zwischen „DJs“ und „Breakern“ statt.

Zu den ästhetischen Ausdrucksformen des HipHop, zu denen weiters „breakdance“ als Tanzstil und „Graffitis“ als malerische Ausdrucksform gehören, kamen ein bestimmter Sprachstil, eigene In-Sportarten (Skateboarden, Basket- und Streetball) und ein teilweise davon beeinflusster Kleidungsstil hinzu.

HipHop – ein globales Phänomen[134]

HipHop ist ein treffendes Beispiel einer Jugendkultur, die in räumlich und sozial lokalisier- oder bestimmbaren Kontexten entstand, im Verlaufe ihrer Ausformung dann ihre engen Grenzen hinter sich ließ und an anderen Orten und anderen Ländern in neuen Kontexten weiterentwickelt wurde und wird.

Bis Ende der 1970er-Jahre blieb die HipHop-Kultur ein Underground-Phänomen. Ab Mitte der 1980er-Jahre trat sie dann aber ihre Reise um die ganze Welt an und findet mittlerweile weite Verbreitung beispielsweise in Japan und Europa. Vor allem Musik und Graffiti übernahmen dabei jeweils Schlüsselfunktionen. Entscheidend ist jedoch, dass vermittels dieser ästhetischen Ausdrucksformen ein komplexer Kulturstil – „a whole way of life“ – auf die Reise ging. Dabei zeigt sich, dass die Entgrenzung kultureller Praktiken Voraussetzung für die Dynamik gegenwärtiger Kulturprozesse ist.

Hermann Bausinger hat diese Entwicklungen bereits 1961 antizipiert, als er vom Zerfall der Horizonte und der damit verbundenen Verfügbarkeit der Güter sprach[135]. Aus dem Blickwinkel der Europäischen Ethnologie sind zumindest zwei grundlegende Fragen zu stellen. Die erste geht nach den Voraussetzungen dieser Verfügbarkeit, die zweite fragt daran anschließend nach den Bedingungen der durch die Verfügbarkeit ermöglichten Aneignung von kulturellen Praktiken bzw. deren Weitergabe in neuen Kontexten.

SMS-Kommunikation[136]

SMS steht für „Short Message Service“ und ist ein Dienst, den alle Netzbetreiber mit Ausnahme des schon veralteten D-Netzes anbieten. Es ermöglicht den Versand einer Textnachricht, die allerdings auf 160 Zeichen beschränkt ist. SMS erfreuen sich vor allem bei Jugendlichen großer Beliebtheit. Die wichtigsten Vorteile sind der schnelle Versand, der auch eine Art Dialog ermöglicht, sowie die Möglichkeit, SMS rund um die Uhr abzusenden bzw. abzulesen.

Wie sind SMS aufgebaut, um in 160 Zeichen aussagekräftig sprachlich handeln zu können? Durch die Zeichenbeschränkung muss die Sprache möglichst knapp gehalten werden. Viele SMS-Kritiker beklagen diesen „Sprachverfall“ und behaupten, das SMS-Schreiben verringere die Sprachkompetenz von Jugendlichen. Ihrer Diagnose kann aber nur bedingt zugestimmt werden: Denn um erkennen zu können, welche Elemente für den Inhalt eines Satzes oder Textes wesentlich sind und welche verkürzt oder weggelassen werden können, ist ein ausgeprägtes Sprachverständnis notwendig.[137]

Der Versand von SMS ist bei Jugendlichen vor allem in Liebesangelegenheiten von großer Bedeutung. Die räumliche Distanz nimmt Hemmungen, die im direkten Gespräch auftreten. 160 Zeichen sind ideal, um kleine Nettigkeiten zu versenden, die man sich sonst nicht zu sagen traut; und da auch nur ein Sender und ein Empfänger eingebunden ist, ist die Verwendung von SMS für den Austausch von Intimitäten geradezu wie geschaffen.[138]

Politische und unpolitische Jugendkultur: Skinheads[139]

Seit ihrer Entwicklung in England Mitte der 1960er-Jahre hat sich die Skinhead-Jugendkultur über die ganze Welt auszubreiten begonnen. Ein großer Teil der heutigen Skinheads ist als rechtsextrem einzustufen; doch das Spektrum in der Szene ist breiter. Obwohl die rechten Skins von den meisten anderen unpolitischen und antirassistischen Skins nicht als solche akzeptiert werden, nennen sie sich doch Skins – und daher haben die linken „Red-“ und „Anarchoskins“ genauso mit Vorurteilen zu kämpfen wie die unpolitischen, aber antirassistischen „Sharp-“ oder „Oi!-Skins“.

Becci Buschmann ist ein in Innsbruck lebendes „selbstbestimmtes, unabhängiges Skingirl“. Ihrem Wissensstand zufolge ist sie derzeit das einzige Mädchen mit diesem Selbstverständnis, nicht nur in Tirol, sondern auch in Vorarlberg, wo sie geboren ist. Innerhalb der alternativen Innsbrucker Kulturszene gehören Jugendliche wie sie, die sich als unpolitische, aber antirassistische Skinheads definieren, einer absoluten Minderheit an, die für Irritationen sorgt und mit vielen Vorurteilen konfrontiert ist. Weil sie und ihre Freunde sich als Skinheads nicht ständig erklären oder rechtfertigen wollen – wie etwa durch „Gegen Nazis“- oder „Sharp“ (= „Skinheads against Racial Prejudice“/„Skinheads gegen Rassismus“)-Aufnäher auf der Bomberjacke – werden sie von anderen Jugendlichen häufig in missverständlicher Weise wahrgenommen.[140]

Veganismus und Jugendkultur[141]

Die Ernährungs- und Lebensweise, bei der am konsequentesten auf tierische Produkte verzichtet wird, ist der Veganismus. Vegan lebende Menschen konsumieren weder Fleisch (auch nicht Geflügel oder Fisch) noch Eier oder Milch, Milchprodukte und Honig. Mit veganer Lebensweise ist gemeint, dass in verschiedenen Lebensbereichen Alternativen für alles Tierische (also z. B. auch Schuhe aus Leder oder Kleidungsstücke aus Wolle und Seide) gesucht werden. Der Veganismus muss in Verbindung zur so genannten Tierrechtsbewegung gesehen werden, die das Grundrecht aller Tiere auf ein unversehrtes Leben in Freiheit einfordert.[142]

2002 haben sich die Innsbrucker Jugendlichen Arie (23), Anna (20) und Chris (23) zur Gruppe „v-live“ zusammengeschlossen – mit dem Ziel, die Themen Veganismus und Tierrechte einer breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen. Die Gruppe besteht aus den drei GründerInnen und einer Hand voll anderer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Gruppe veranstaltet vor allem vegane Kochabende mit wechselnden thematischen Schwerpunkten. Neben den Kochabenden organisiert die Gruppe auch kulturelle Veranstaltungen (Konzerte, Filmabende, Vernissagen), zu denen veganes Essen gereicht wird.[143]

Fankultur im Innsbrucker Tivolistadion[144]

Während in den letzten Jahrzehnten das Fußballspiel keine größeren Veränderungen erfuhr, wandelten sich die äußeren Rahmenbedingungen entscheidend. Nicht nur das Spiel allein ist entscheidend, sondern vielmehr die Interaktion (Wechselbeziehung) zwischen Spielern und Fans. Lieder, Sprechchöre und Fan-Rituale gehören inzwischen zum fixen Bestandteil eines Spiels.

Bis zuletzt glaubte kaum ein Tiroler Fußballfan an das bevorstehende Schreckensszenario. Und doch kam 2002 das vorläufige Aus für den Spitzenfußball in Innsbruck. Der Abstieg in die Regionalliga war Tatsache geworden. Die Zeit der gefüllten Stadions und aufwändigen Choreografien der Fans schienen vorbei. Der „FC Tirol“ hatte etwa 10 Fanclubs. Die aktivsten dabei nannten sich die „Verrückten Köpfe“, die „Wild Boys“ oder die „Freaks“. Einige Tiroler Fanclubs schlossen sich 2000 zur „Faninitiative Innsbruck“ zusammen, die sich seither als Sprachrohr der fanatischen Nordtribüne versteht.

Aus der Sicht der „Verrückten Köpfe“ (VKs), des dominierenden Fanclubs in Innsbruck, war „der Lizenzentzug und der damit verbundene Zwangsabstieg in die Regionalliga West das Beste […], was uns nach den Erfolgsjahren passieren konnte.“ In der neuen Situation verstärkte sich die Identifikation vieler Fans mit dem neu entstandenen Verein „FC Wacker Innsbruck“.[145]



[126] Kurzfassung von Reinhard Bodner

[128] [Lévi-Strauss 1962], S. 29ff. Weiterführende Literaturangaben: [Meueler 1997], S. 32–39. [MoserJ 1997]. [Winter 1997], S. 59–72.

[130] Gekürzter Auszug aus [SchneiderI 2003].

[132] Vgl. Dazu Brecher, Jeremy u.a.: Global Visions: Beyond the World Order. Boston 1993.

[133] Gekürzter Auszug aus [SchneiderI 2003].

[134] Gekürzter Auszug aus [SchneiderI 2003].

[136] Gekürzter Auszug aus[Sohm 2003].

[137] Der Kulturkreis „Das Zentrum“ in Radstadt hat 2004 zum zweiten Mal den Literaturwettbewerb SHORT POEMS, Literatur auf kleinstem Raum, ausgeschrieben.

[139] Gekürzter Auszug aus [Buschmann/Dejakum 2003], S. 48–61.

[140] Zitiert nach einem Interview, das Kerstin Schaberreiter und Reinhard Bodner am 3. Februar 2003 am Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde mit Becci Buschmann geführt haben. Weiterführende Literaturangaben: [Birsel 1992]. [Farin 1999]. [Farin/Seidel-Pielen 1993]. [Hebecker 1997]. [Marshall 1998]. [Marshall 1991]. [Öllinger 1997]. [Vieth 1981].

[141] Gekürzter Auszug aus [Moser/Lunger 2003].

[143] Weiterführende Literaturangabe: [Erik 2002].

[144] Gekürzter Auszug aus [BergerK 2003].

[145] Weiterführende Literaturangaben: [SchneiderI 1998]. [Rühlemann 1996].

This document was generated 2022-08-08 16:43:15 | © 2022 Forum Salzburger Volkskultur | Impressum