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Individuelle Lebenswelten - Langtexte

Bedeutung und Möglichkeiten der Sinnfindung – aus der Sicht der Existenzanalyse und Logotherapie nach V. E. Frankl (Heinz Rothbucher) – Langtext

„Leiden am sinnlosen Leben“ – von der existenziellen Frustration zur noogenen Neurose

„Jede Zeit hat ihre Neurose – und jede Zeit braucht ihre Psychotherapie. Tatsächlich sind wir heute nicht mehr wie zur Zeit von Freud mit einer sexuellen, sondern mit einer existenziellen Frustration konfrontiert. Und der typische Patient von heute leidet nicht mehr so wie zur Zeit von Adler an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern an einem abgründigem Sinnlosigkeitsgefühl“[1685], das den Menschen an einem schmerzlichen Leeregefühl leiden lässt und sich zur noogenen Neurose verdichten kann. „In Fällen, wo letztlich ein geistiges Problem, ein sittlicher Konflikt oder eine existenzielle Krise der betreffenden Neurose ätiologisch zugrunde liegt, sprechen wir von noogenen Neurosen.“[1686] Das ist, kurz angedeutet, die Grundthese und wohl auch geniale Intuition von Viktor Frankl, dem Wiener Arzt und Psychiater, dem Begründer der so genannten Existenzanalyse und Logotherapie – auch genannt die „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ (nach der Psychoanalyse und Individualpsychologie).

Als erfahrener Psychiater leugnet Frankl natürlich keineswegs Tatsache und Therapienotwendigkeit anderer Neurosenformen wie etwa des angst- oder zwangsneurotischen Formenspektrums; im Gegenteil, er bietet bei entsprechender Symptomatik auch sehr zielführende Vorschläge zu deren Diagnose und Therapie an. Mit der Etablierung seiner sinnorientierten Psychotherapie, die wesentlich dadurch geprägt ist, dass sie neben der psychischen und somatischen Dimension auch die geistige Dimension des Menschen wahrnimmt und beachtet, schafft er eigentlich erst die Möglichkeit, auch die Sinn-Neurosen (noogene Neurosen) zu behandeln, die laut seiner Einschätzung immerhin ca. 20 % aller Neurosen ausmachen (andere Autoren, wie z. B. Yalom sprechen sogar von 30 %). Wie praktische Therapieerfahrungen bestätigen, weist Frankl völlig zu Recht immer wieder darauf hin, dass Sinn-Neurosen spezifische Therapieformen postulieren, wie sie in der Existenzanalyse und Logotherapie angeboten werden. Einem an noogener Neurose erkrankten Menschen kann letztlich nur geholfen werden, wenn auf die eigentliche zugrunde liegende Sinnproblematik eingegangen wird.

Übrigens ist Frankl sicher nicht alleine mit der Auffassung, dass das Fehlen eines Sinnes im Leben eine „entscheidende Rolle bei der Ätiologie der Neurosen“ spielen kann. Auch nach C. G. Jung ist „Neurose letztlich als das Leiden einer Seele zu verstehen, die ihren Sinn noch nicht entdeckt hat“.[1687]

Wenn der Sinn zur Frage wird …

Sinnverlust bedeutet zumeist nicht ein punktuelles, klar diagnostizierbares Ereignis, sondern eher einen langsamen, immer mehr bedrückenden Prozess. Es ist wie wenn sich ein „Grauschleier“ über den Alltag legen würde; es ist ein allmähliches „Erblinden“, ein Nicht-mehr-Sehen, Nicht-mehr-Spüren-Können des „Warum, Wozu“ im Leben. Diese Menschen klagen zusehends über Interesselosigkeit, Langeweile, sie fühlen sich niedergeschlagen, kraftlos, zuweilen berichten sie auch von bislang nicht gekannten Ängsten und auch davon, dass sie häufiger erkranken – seelisch oder körperlich. Sie scheinen keine Wünsche mehr zu kennen. Sie wissen keine Antwort auf die Frage nach Werten, sie sind eigentlich orientierungslos, sie haben kaum noch Hoffnung auf Veränderungen. Ein altes chinesisches Sprichwort lautet: „Wenn die Winde des Wandels wehen, bauen die einen Menschen Mauern, die anderen Windmühlen“. Menschen, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr spüren, haben oftmals auch keine Träume und Visionen mehr; sie „mauern“ sich buchstäblich immer mehr ein, isolieren sich, sie vermögen „dem Leben nicht mehr zu antworten“ (Frankl). In der Beratung und Therapie kann man immer wieder die Erfahrung machen: Es ist weniger das Leben, das diese Menschen bedrückt, es ist viel mehr das ungelebte Leben, das sie depressiv oder leidend vor Sehnsucht werden lässt. Sie wagen es immer weniger, sich dem konkreten Leben und seinen Problemen zu stellen. Der Schatten des Ungelebten fällt lastend über sie und erschlägt sie beinahe. Ein Gedicht von Erich Fried schildert sehr treffend diesen Prozess des ungelebten, sinnlosen Lebens:

Kleines Beispiel

Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt.

Aber das hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und sovielen Jahren
anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie aufmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen.

Da hättest du
genau so gut
leuchten können.

Viktor Frankl hat die Existenzanalyse und Logotherapie bzw. die daraus resultierenden Methoden und Vorgangsweisen einer sinnorientierten Therapie nicht am grünen Tisch erfunden und konstruiert, sondern buchstäblich selbst durchlebt und erlebt im KZ (in dem er auch vier Angehörige verloren hat). „Sinn macht vieles, vielleicht alles ertragbar – dafür dass das gilt, stehe ich ein aufgrund von drei Jahren Erfahrungen in Auschwitz und zwei Filiallagern in Dachau. Dort ist diese Wahrheit erhärtet worden.“[1688] Dort hat er buchstäblich am eigenen Leib das erlebt, was Friedrich Nietzsche formuliert hat: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“.

Versuche einer diagnostischen Beschreibung der Phasen des Sinnverlustes

Frankl betont mehrmals in seinen Schriften, dass vor allem der Verlust von Instinkten und Traditionen bei vielen Menschen zu einer Orientierungslosigkeit, ja innerer Leere, geführt hat. Die Betroffenen hätten dann das Gefühl, „überhaupt nicht gelebt zu haben“. Nach seiner Terminologie, die er leider nicht konsequent durchhält, vollzieht sich die Sinnfindungskrise zumeist in drei Phasen: Zunächst kommt es zur so genannten existenziellen Frustration. Sie äußert sich als temporäres Leiden am sinnlosen Leben; noch ist es ein Ringen um Sinn. Noch kann man in keiner Weise von einer Krankheit sprechen, sondern eher von einer Krise der Sinnfindung, von einer partiellen Störung der „Intentionalität auf eine bestimmte Aufgabe, auf ein Ziel, auf einen Sinn hin.“ Dieses Stadium ist eigentlich noch Ausdruck „geistiger Mündigkeit“, ja sogar – wie Frankl immer wieder formuliert – Ausdruck einer eigentlich urmenschlichen Frage, geboren aus dem „Willen zum Sinn“.

In weiterer Folge kommt es dann zum so genannten existenziellen Vakuum, mit einer bereits permanenten Sinn- und Lebensleere, die von einer tiefen, ja pathogenen Langeweile geprägt ist. Der betroffene Mensch leidet nun an einer echten Sinnverluststörung, die ihn „erstarren“ lässt. Frankl spricht von einem „Gefühl des verlorenen Daseinssinns- und Lebensinhaltes“. Mit dem Hineinschlittern in ein existenzielles Vakuum verbindet sich zumeist eine „deutliche Verschlechterung der Affektlage in Richtung depressiver Zustände“. In der existenziellen Frustration kämpft der Mensch noch verzweifelt um den (eigentlich) noch phasenweise erahnten Sinn; er wird nur in manchen konkreten Situationen nicht mehr intensiv genug wahrgenommen.

Im Stadium des existenziellen Vakuums, in dem der Mensch bereits wie gelähmt und initiativlos wirkt, werden Symptome einer gewissen Hoffnungslosigkeit und der Verweigerung dem Leben gegenüber immer drängender; in Verbindung mit einer „somato-psychischen Affektion“ (Lukas) werden die negativen Impulse sozusagen gebündelt und wachsen sich allmählich zu einer Krankheit aus. Es kommt zur eigentlichen Sinn-Neurose, der noogenen Neurose. Der Modus der neurotischen Existenz in dieser Phase ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die „Stimme der geistigen Person vom Psychophysikum übertönt wird“.[1689] In der Folge bestimmen die zuständlichen Gefühle (wie Angst, Versagensgefühle, …) Leben und Handeln stärker als die intentionalen Gefühle (Offensein und sich zugleich Verantwortlich-Fühlen für das Wesentliche, für das Sinnvolle, für den Mitmenschen). Der betroffene Mensch vermag „dem Leben nicht mehr zu antworten“ (Frankl).

Mit anderen Worten: Wenn aufgrund bestimmter gesellschaftlicher oder persönlicher Umstände Sinnprobleme immer drängender werden, wenn der Mensch sich etwa bedroht fühlt durch den Verlust bisher prägender Werte (z. B. aufgrund schwerer Krankheit oder Tod von Angehörigen oder Zerbrechen einer Beziehung), dann können diese Krisen, begünstigt durch eine gewisse körperlich-seelische Erkrankungsbereitschaft (z. B. eine psycho-vegetative Labilität), zur noogenen Neurose führen und damit in einen spezifischen neurotischen Teufelskreis einmünden. Im konkreten Krankheitsverlauf treten dann immer massiver und dominanter folgende Symptome auf:

  • Gefühle von innerer Leere und Sinnlosigkeit

  • Wertlosigkeit: alles ist plötzlich nichts mehr wert, einschließlich der eigenen Person (ganz im Gegensatz zum Wertverlust und der Trauer bei der reaktiven Depression)

  • Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, Missstimmung

  • Kraftlosigkeit, Mattigkeit, auch „kränkeln“ (Böschemeyer) in Form von häufigeren Bagatelleinfektionen sowie alle möglichen körperlichen Beschwerden

  • auch Schlafstörungen, Appetitverlust und Ähnliches als Ausdruck der psycho-vegetativen Labilität, „die das Unbehagen aufbauscht und den Korrekturimpuls lähmt“ (Lukas)

  • „Tödliche“ Langeweile.[1690]

Sehr illustrativ ist in diesem Zusammenhang die Abbildung „Existentielle Frustration“ von [Lukas 1995], S. 213.

Eine Fallstudie[1691] dargestellt von U. Böschemeyer, möge zusammenfassend den meist ganz und gar nicht spektakulären, aber oftmals umso mehr quälenden Prozess von der existenziellen Frustration bis hin zur noogenen Neurose illustrieren:

„Gudrun, eine 35-jährige gutaussehende Frau, kam mit einem unbestimmten Wunsch zu mir. So wie bisher könne es mit ihr nicht weitergehen, sagte sie. Sie müsse etwas für sich tun. Wenn sie so weiterlebe, wisse sie nicht, warum sie überhaupt noch lebe. Sicher gehe es ihr nicht schlechter als anderen, sie habe jedoch den Anspruch, mehr aus ihrem Leben machen zu wollen. Gudrun arbeitete in leitender Position in einer Werbefirma. Man schätzte sie wegen ihres Könnens. Man fürchtete sie wegen ihrer Launenhaftigkeit. Deshalb war sie an dem Ort, an dem sie die meiste Zeit verbrachte, nicht besonders beliebt. Obwohl sie sich wegen ihres unkollegialen Verhaltens Vorwürfe machte, schien sie es nicht ändern zu können. Einen anderen Beruf konnte sie sich nicht vorstellen, doch er füllte sie nicht aus. War sie erfolgreich, empfand sie eine gewisse Genugtuung, trotzdem war sie mit dem, was sie tat, insgesamt unzufrieden.
Sie hatte keinen Partner. Mehrere ernsthafte Beziehungen hatte sie gehabt, keine aber führte zur ersehnten Ehe. Sie hatte keine Mühe, einen Mann für sich zu interessieren. Mühe hatte sie damit, sich auf die jeweilige Partnerschaft einzulassen.
Gudrun reiste gern. War sie unterwegs, genoss sie einerseits den fremden Zauber, andererseits aber war es gerade dieser Zauber, der sie an ihr unzufriedenes Leben in der Heimat erinnerte.
Gab es denn nichts, wofür sie sich begeistern konnte? Nichts, was sie auf längere Zeit hätte ausfüllen können. Nicht selten fühlte sie sich ‚unpässlich’ und matt, litt unter diversen diffusen körperlichen Beschwerden. Sie klagte über Nervosität und gestörten Schlaf, über Gereiztheit und Spannungen an Körper und Seele. Sie fühlte sich oft deprimiert und ausgefüllt von ‚Weltschmerz’, wie sie spöttisch sagte, und einer tiefen Sehnsucht ‚nach einem ganz anderen Leben’.
Was hatte sie von zu Hause mitgebracht? Vor allem dieses: Die Eltern waren beruflich sehr erfolgreich gewesen. Deshalb hatte der Vater sie früh dazu animiert, ‚alles daranzusetzen, um im Leben etwas zu erreichen’. Nur – was hatte sie erreichen sollen und wollen? Den Hauptwert Erfolg, der ihr von zu Hause vermittelt worden war, hatte sie längst verwirklicht. Der hatte ihr Streben nach Erfolg befriedigt, nicht aber ihre Seele. Andere Werte waren ihr nicht nahegebracht worden. Sie selbst hatte danach nicht gesucht.
Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich sie vor mir: elegant gekleidet, das Gesicht gepflegt. Doch ihre Augen haben keinen Glanz. Sie erscheint mir wie ein großgewordenes Kind, das noch immer nicht weiß, womit es am liebsten spielen möchte – und darum unzufrieden ist. Ich spüre die Traurigkeit, die von ihr zu mir herüberzieht. Ich spüre auch die verkapselte, richtungslose Wut über ihr ungekonntes Leben. Ich empfinde ihre Ohnmacht, die ihren Grund hat in einer tiefen Orientierungslosigkeit“.

Ebenen und Möglichkeiten der Sinnfindung[1692]

Ahnen der eigenen Authentizität

Der Autor und Theologe B. Kaspar formuliert sarkastisch und treffend zugleich: „Alle Menschen werden als Originale geboren; die meisten enden als Kopie“. Kopie sein bedeutet: Ich bin nicht mehr ich selbst, ich spiele eine Rolle, ich bin nicht mehr authentisch. Authentizität im Sinne von V. Frankl – verstanden als „Stimmigkeit zwischen dem als Wert erkannten, freier Entscheidung und konkreter Verwirklichung“ – bedeutet letztlich Bejahung des „wirklichen“ Menschen. Nur wenn ich mich so annehme, wie ich wirklich bin, kann ich meine eigentlichen Möglichkeiten erahnen, meine persönlichen Ressourcen entfalten und so dem Leben „antworten“. In der therapeutischen Praxis zeigt sich immer wieder, wie oben bereits angedeutet, dass viele Menschen am „ungelebten Leben“ leiden. Sie finden nicht zu ihrer eigenen Existenz. Statt in sich rein zu hören, sind sie fremd geleitet. Statt in der konkreten Situation ihren eigenen sie prägenden Wesensmerkmalen und Ressourcen entsprechend auszuwählen und zu entscheiden, lassen sie sich manipulieren und von außen treiben. Statt ihr eigenes Leben zu leben, werden sie gelebt und schlittern so immer mehr in den Zustand der „inneren Leere“.

Wie kann ich nun erahnen, welches meine Möglichkeiten, meine Wesenspunkte, meine Authentizitätsmerkmale sind. Für die therapeutische Praxis habe ich ein Verfahren entwickelt, das sich schon sehr oft bewährt und weitergeholfen hat – die so genannte Existenzialmeditation. Zur Durchführung sei in diesem Rahmen nur so viel angedeutet: Entscheidend für das Glücken der Existenzialmeditation ist, dass der Meditierende in einer ersten Phase in einem entspannten Zustand Vorstellungen imaginiert, wie: Wann habe ich mich konkret das letzte Mal so richtig innerlich wohl gefühlt, was sind meine größten Sehnsüchte und Träume, was heißt für mich eigentlich Leben? Durch diese oder ähnliche Impulse werden ganz konkrete Vorstellungen und Bilder aus dem eigenen Leben wieder gegenwärtig und so der einzelne Mensch (wieder) fähiger, solche Werte lebendig zu erleben, die V. Frankl als Erlebnis- und schöpferische Werte bezeichnet; durch dieses „positiv Fantasieren“ öffnen sich wieder die positiven Denk- und Emotionsbahnen.

Existenzialmeditation

In der nachfolgenden Auswertungsphase nach dem so genannten Strukturmodell, die in diesem Rahmen nur skizziert werden kann, kann der Meditierende erahnen, dass es nicht entscheidend ist, in welcher Situation, unter welchen äußeren Bedingungen ich mich wohl fühle, sondern ob bestimmte Wesensmerkmale, die ganz zu mir gehören, in denen ich spüre, „das bin ich, hier spiele ich keine Rolle“, konkret immer wieder realisiert werden können. Diese Wesensmerkmale markieren sozusagen den Bereich, in dem meine Ressourcen liegen, meine Stärken und in dem ich Sinn verwirklichen kann. Diese meine Wesensmerkmale dürfen niemals wegtherapiert werden. So sind zum Beispiel etwas stillere Menschen, vielleicht sogar etwas melancholischere Menschen oftmals besonders befähigt zu einem echten Dialog und können so den Mitmenschen in besonderem Maße helfen.

Fähigwerden zur so genannten Selbst-Transzendenz

Vorweg eine Fallstudie aus meiner Praxis, die mich besonders berührt hat:

Die Patientin, eine 45-jährige Frau, von Beruf Krankenschwester, noogene Neurose und Depression mit schweren Angstzuständen, unfähig den Alltag, geschweige den Beruf zu bewältigen; wie immer wird sie von ihrem Mann in die Therapiesitzung begleitet. Auf dem Weg von der Eingangstür zum Therapiezimmer bricht es aus dem Mann so richtig heraus: „Ich halte es nicht mehr aus, dies ist nicht mehr meine Frau. Sie ist völlig in sich eingekapselt, ich möchte mich auch wieder mal ‚anlehnen‘ können, mich geborgen fühlen.“ Zu Beginn der Therapie sitzt die Patientin – wie üblich – mit gesenktem Kopf in sich verschlossen da. Ich spreche sie sehr bestimmt an: „Frau …, schauen Sie Ihren Mann an!“ Die Reaktion ist zunächst ein leises Jammern über ihre Angst. Ich interveniere beharrlich immer wieder: „Frau …, schauen Sie Ihren Mann an!“ Plötzlich hebt die Frau ihren Kopf, schaut ihren Mann an und sagt: „Geht es dir schlecht?“

Ab dieser Phase der Therapie besserte sich der Zustand der Frau wesentlich und nachhaltig. Heute kann sie wieder voll ihren Beruf ausüben. Sie hat es geschafft, das Korsett des Zwanges, der Neurose aufzuschnüren, wieder voll zu atmen und somit wieder leben zu können. Diese Fallstudie zeigt, wie entscheidend es ist, dass Menschen wieder „aufmachen“, Offensein-Können; V. Frankl bezeichnet dies als Selbst-Transzendenz-Fähigkeit. „Wirklich Mensch wird der Mensch also erst dann und ganz er selbst ist er nur dort, wo er in der Hingabe eine Aufgabe aufgeht, im Dienst an einer Sache oder in Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst.“[1693]

Fähigwerden zum Dimensionswechsel

Zu den schwierigsten Aufgaben in der Therapie und Beratung gehört es, einem Menschen, der in der eigenen Angst oder in einem bestimmten Zwang gefangen ist, zu helfen, ein bestimmtes Ereignis einmal unter einem anderen Aspekt, sozusagen mit einer anderen Brille zu sehen oder gar sich bzw. seine Sichtweise zu relativieren, infrage zu stellen. Die Konsequenz dieser „Einseitigkeit“, des Abgekapseltsein ist, dass er dem wirklichen Leben oftmals nicht mehr antworten kann und ihm so viele Möglichkeiten und Anlässe für Sinnerfahrungen verborgen bleiben. Ich hoffe, dass der nachfolgende Text mehr als viele Argumentationen veranschaulichen kann, was unter Dimensionswechsel gemeint ist, ja vielleicht kann er den/die LeserIn sogar zum Schmunzeln bringen; dann könnte der Transfer in Bereiche gelingen, in denen viele Menschen aufgrund ihrer Vorteile vielleicht nicht mehr ganz so objektiv konkrete Situationen beurteilen können.

Zur Relativitätstheorie des Alters

Verschiedene Lebensalter formulieren ihre Meinung über 50-Jährige:

  • 50-Jährige: „Das ist ein gutes Alter. Man kann so richtig etwas schaffen, hervorbringen. Es ist vielleicht das beste Alter: reif, aber nicht alt. Und da hast du noch etwas vor dir. Ja, man ist sogar noch begehrt. Eigentlich finde ich das schön.“

  • 60-Jährige: „Ja, das war eigentlich noch schön. Mit 50 da war noch alles offen. Da hatte ich noch Möglichkeiten. Man war noch für etwas da. Eigentlich das Alter, wo man der nächsten Generation den Zugang zu den wichtigsten Stellen versperrt, ihr im Weg ist.“

  • 70-Jährige: „Ach, da war ich noch ein junger Schnaufer. Mit 50, da macht man noch Fehler, genauso wie vorher. Man ist eigentlich zu jung für die Verantwortung, die man hat. Grünschnäbel sind sie die 50-Jährigen. Das einzig Schöne ist, dass man beruflich fest im Sattel sitzt und noch ankommt. Aber sonst, jung, viel zu jung, noch nicht ernst zu nehmend.“

  • 80-Jährige: „Ach, das ist schon lange her. Vielleicht das beste Alter, im Zenit des Lebens. Ich erinnere mich, da hatte ich das Gefühl, alles sei noch vor mir. Eigentlich, 50, noch fast ein Kind, obwohl man selber schon Kinder hat. Ich habe das Gefühl, das war die Zeit, wo noch alles sehr lange dauert. Mit 50, da hatte ich noch Zeit. Jetzt geht alles zu schnell.“

Stellungnahmen der unter 50-Jährigen:

  • 40-Jährige: „Da hast du nichts mehr vor dir. Da muss bereits alles Heu in der Scheune sein. Eigentlich denke ich mir, dass man sich aufs Altern vorbereiten muss. Und etwas Neues kannst du nicht mehr machen. Eigentlich ist alles vorbei. Auch die Liebesfähigkeit ist sicher nicht mehr so groß.“

  • 30-Jährige: „Oh, das ist weit weg von mir. Ich weiß nicht, ob ich mal so wahnsinnig alt werde. Aber 50-Jährige werden auch vernünftiger. Sie stürmen nicht mehr so. Ja, sie akzeptieren, dass sie einfach alt sind. Vielleicht ist das doch nicht so alt. Es ist nur so weit weg, ich kann es mir nicht vorstellen.“

  • 20-Jährige: „50-Jährige haben eigentlich alles in der Hand. Sie sind die Könige. Sie haben das Sagen, und sie lassen nicht locker: Sie sitzen auf der Macht. Deshalb ist für uns das Leben so schwer. Man sollte sie eigentlich alle pensionieren. Denn sie haben lange gelebt. Jetzt sollten sie es genießen.“

  • 10-Jährige: „Uh, das ist furchtbar alt. Zweimal Großvater. Frauen sind mit 50 etwas jünger, aber nicht viel. 50 das ist viel, viel. Wer so alt ist, der muss glücklich sein. So wie es eben alte Leute sind.“

Sinnfindung bedeutet Zusammenhänge verstehen

In der Hoffnung, dass Anthony de Melo Recht hat, wenn er meint, Texte erzeugen Bilder im Menschen und sind deshalb zum Verständnis schwieriger Zusammenhänge viel wirkungsvoller als lange Argumentationsketten, sei vorweg auch in diesem Abschnitt ein Text angeboten:

„Tief im Mittelalter ging ein Mann auf einer verstaubten Straße seines Weges. Wo immer er auf Menschen stieß, blieb er stehen und fragte sie, was sie arbeiteten und für wen sie es taten. Denn seit geraumer Zeit wusste er um sein Leben nicht mehr Bescheid, wusste nicht mehr, was er tun solle und wofür. Des Nachsinnens müde, zog er aus, um von anderen Menschen zu hören, was sie bewegte. Auf diese Art wollte er in Erfahrung bringen, was ihm verlorengegangen war. Da stieß er auf einen Mann, der am Wegrand saß und ganz gebückt auf einen Stein einschlug. Der Wanderer blieb stehen und schaute ihm lange zu. Da er seine Tätigkeit nicht verstand, fragte er ihn: ‚Freund, lange schon schaue ich dir zu, wie du behend auf diesen Stein einschlägst. Allein es mangelt mir an Verständnis. Freund, kannst du mir, einem Fremden und deines Handwerks Unkundigen, verraten, was du da machst?‘ – Ohne in seiner Tätigkeit innezuhalten, murmelte der Mann missmutig in seinen Bart: ‚Du siehst alles. Ich behaue Steine.‘
Tief in Gedanken zog der Mann weiter. ‚Was ist das für ein Leben‘, dachte er bei sich, ‚die ganze Zeit Steine zu behauen?‘ Da sich sein Unverständnis noch mehr vergrößert hatte, betrachtete er es als ein Glück, als er wenig später wieder einen Mann da sitzen sah, der emsig auf einen Stein einschlug, in der gleichen Art wie zuvor der andere Mann. Auf ihn ging der Wanderer zu und fragte ihn sogleich: ‚Freund, wozu schlägst du auf diesen Stein hier ein?‘ – Der Mann, etwas erschrocken von der unerwarteten Frage, antwortete nach einigem Zögern: ‚Siehst du nicht, Fremder, ich mache Ecksteine!‘
Betroffen ob seiner Unwissenheit setzte der Wanderer seinen Weg fort. Die Verzweiflung in ihm wuchs, denn er konnte sich nicht abfinden mit dem, was er gesehen hatte. Sollte das ganze Glück des Lebens darin bestehen, Steine zu behauen oder Ecksteine zu machen? In die Sorge seines Herzens versunken, hätte er beinahe übersehen, dass er wieder an einem Mann vorbeigekommen war. Auch dieser saß am staubigen Wegrand und schlug auf einen Stein ein, nach der Art, wie die beiden anderen Männer. Der Wanderer blieb stehen und prüfte voller Staunen, was dieser Mann tat. Nachdem er sich davon überzeugt, dass auch dieser Mann mit derselben Fertigkeit einfach auf einen Stein einschlug, ging er langsam auf ihn zu und richtete seine Rede, die er nicht weiter zurückhalten konnte, an ihn und fragte: ‚Freund, sag mir: Was ist deine Tätigkeit? Behaust auch du nur Steine, oder machst du gar Ecksteine?‘ – ‚Nein, Fremder‘, antwortete der Mann und wischte sich den Schweiß von der Stirn, ‚siehst du denn nicht? Ich baue eine Kathedrale!‘“

[1694]

Unser Leben ist oft vergleichbar mit einem sehr anstrengenden, mühseligen, scheinbar nie enden wollenden „Steine behauen“ – aber es kann sinnvoll werden, wenn wir diese Tätigkeiten in einem Zusammenhang sehen, und zwar in einem selbst gewählten, sei es in einer Beziehung zum Menschen, sei es in einer Beziehung zu einer Idee. Im Verständnis Frankls ist Engagement immer noch die beste Therapie bei allen Formen des Sinnverlustes. Warum? Scheinbar noch so unwichtige und eintönig scheinende Tätigkeiten (man denke nur an immer wiederkehrende Tätigkeiten im Beruf, Alltag, im Haushalt usw.) können als sinnvoll empfunden werden, wenn wir wissen, warum wir sie tun und uns damit für ein tieferes Motiv entscheiden. Mit anderen Worten: Sinn erfassen bedeutet immer für sich eine Ganzheit erleben; „aus dem Bruchstückhaften wird durch das geistige Band ein Zusammenhang geschaffen, der sich uns mit der offenen Einladung präsentiert, uns selbst in diesen Sinnzusammenhang zustellen“.[1695]

Besinnen auf die eigene Verantwortlichkeit

Sinnfindung kann letztlich nur gelingen, wenn ich mich für eine konkrete Möglichkeit in einer bestimmten Situation entscheide und dann persönlich die Verantwortung dafür übernehme. Verantwortung kann ich nicht delegieren; dies spüren wir in vielen Alltagssituationen. Ich bin verantwortlich „für die Erfüllung des Sinns, der durch die Wertmöglichkeiten einer jeden Situation gegeben ist“.[1696] Sind wir uns eigentlich bewusst, dass es Kennzeichen einer neurotischen Symptomatik ist, so zu leben als ob man keine Verantwortung übernehmen könnte – mit der Ausrede, der Zwang, die Angst habe einen so fest im Griff, dass man ja gar nicht frei genug sei, selber zu entscheiden und so Verantwortung zu übernehmen?

Frankl wird nicht müde, immer wieder auf die Bedeutung der Verantwortlichkeit hinzuweisen. Wörtlich schreibt er: „Tatsächlich sieht die Existenzanalyse im Verantwortlichsein das Wesen menschlichen Daseins, die Essenz der Existenz“.[1697]

Schlussbemerkungen

Es war in diesem Rahmen nicht beabsichtigt, genaue Definitionen und präzise Abgrenzungen etwa der Termini „Existenzanalyse und Logotherapie“ zu entwickeln; ebenso wenig war geplant, näher auf einzelne Methoden und Strategien der sinnorientierten Psychotherapie Viktor Frankls – wie etwa paradoxe Intention, Dereflexion, Einstellungsmodulation und dergleichen – ausführlich einzugehen.

Eigentliches Anliegen dieses Beitrages ist es, die geniale Intuition und Erkenntnis Frankls zu skizzieren, dass der Mensch letztlich nur menschenwürdig und verantwortlich leben kann, wenn er sich der Frage nach dem Sinn, also nach dem „Warum, Wozu“ stellt. Andernfalls kommt es zu Krisen und neurotischen Störungen, die, da sie nicht nur die somatische und psychische Dimension tangieren, sondern vor allem die geistige Dimension betreffen, wiederum nur mit den genuinen und spezifischen Methoden der Existenzanalyse und Logotherapie therapierbar sind.

TherapeutInnen, denen in ihrer Ausbildung vergönnt war, Viktor Frankl noch persönlich zu erleben, waren nicht nur fasziniert von seiner genialen Intuition, sondern vor allem immer wieder auch von seinem tiefen Humor. Er hat sein ganzes Schaffen und Wirken geprägt und darf nicht vordergründig, sozusagen nur instrumentalisiert, als therapeutisches Interventionsprinzip verstanden werden – um sich, etwa im Rahmen der so genannten paradoxen Intention von Zwängen distanzieren zu können –, sondern vor allem als menschliche Grundhaltung, die Aktivität und Wahrnehmung der eigenen Möglichkeiten bedeutet. Wie sehr Humor für Viktor Frankl zu einer Art „Lebenskunst“ geworden ist, möge eine Passage aus seinem Buch „... trotzdem Ja zum Leben sagen“ belegen. Er berichtet darin, dass er einem Kollegen, der neben ihm auf der Baustelle arbeitete, vorschlug, „uns gegenseitig zu verpflichten, täglich mindestens eine lustige Geschichte zu erfinden, und zwar etwas, das sich dereinst nach der Befreiung und Rückkehr ereignen könnte.“[1698]

Wenn man bedenkt, unter welch furchtbaren Umständen, eben im Konzentrationslager, sich „Wille zum Sinn“ ereignen kann, dann wird man verstehen, dass das Konzept der Existenzanalyse und Logotherapie beileibe kein Laborprodukt ist, sondern wirklich aus und in dem konkreten Leben geboren wurde. Es wird in aller Eindringlichkeit deutlich, wozu die „geistige Dimension“, auf die Frankl immer wieder hinweist, den Menschen befähigt: Er kann auch unter widrigsten Umständen in der konkreten Situation seinen persönlichen Sinn finden.

Anhang

Zur Person: Viktor Emil Frankl

Geb. 1905 (Wien), gest. 1997 (Wien). Neurologe, Psychiater, Psychologe, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse.

Schon als Mittelschüler Interesse an der Psychoanalyse und Korrespondenz mit S. Freud. Studium der Medizin in Wien. 1924 Eintritt in den Verein für Individualpsychologie A. Adlers. 1926 Grundsatzreferat am 3. Internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf, wo er „abweichlerisch“ die Neurose nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern auch als Ausdruck der Person interpretierte, was Adler veranlasste, ihn 1927 aus dem Verein auszuschließen. Durch Rudolf Allers mit der Philosophie Max Schelers in Beziehung gebracht, widmete sich Frankl die nächsten zehn Jahre hauptsächlich dieser Lektüre und arbeitete als Neurologe und Psychiater. Primararzt im Rothschildspital. Ließ 1941 sein Ausreisevisum verfallen, um zum Schutz seiner jüdischen Eltern in Wien zu bleiben. Erstfassung seines logotherapeutischen Grundwerkes „Ärztliche Seelsorge“. 1942 Deportation in das KZ. Verlor praktisch die ganze Familie im KZ. Experimentelle Bestätigung für die Überlebensbedeutung („Survival value“) der Sinnfrage. 1945 bis 1970 Primararzt der neurologischen Abteilung der Wiener Poliklinik. 1946 Habilitation, zweites Doktorat (Psychologie). Verfassung der theoretischen Hauptschriften: Beschäftigung mit der Psychologie der Grenzsituation („… trotzdem Ja zum Leben sagen“; „Ärztliche Seelsorge“), mit den „Anthropologischen Grundlagen der Psychotherapie“ (heute in: „Der leidende Mensch“), mit Kasuistiken („Psychotherapie in der Praxis“), Auseinandersetzung mit der Religion („Der unbewusste Gott“), Neurosenlehre („Theorie und Therapie der Neurosen“) und Herausgabe des fünfbändigen „Handbuches der Neurosenlehre und Psychotherapie“ (1959–1961), gemeinsam mit V. v. Gebsattel und J. H. Schultz. 1961 Gastprofessur bei G. Allport in Harvard. Ihr folgten weitere Gastprofessuren und Gastvorlesungen an insgesamt 208 Universitäten in der ganzen Welt. 1970 Professor für Logotherapie an der United States University in San Diego (Kalifornien). Zahlreiche Ehrungen. 28 Ehrendoktorate, Orden, Ehrenmitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 31 Bücher in 24 Sprachen. Hielt Vorlesungen und Vorträge bis 1996.[1699]

Wichtige Termini der Existenzanalyse und Logotherapie

Sinn: Zentraler Begriff der Logotherapie und der existenzanalytischen Anthropologie V. Frankls, erstmals 1946 in der „Ärztlichen Seelsorge“ ausgeführt. Er sieht die eigentliche und tiefste Motivation des Menschen im Streben nach Sinn (Wille zum Sinn), das er dem Streben nach Lust (Freud) und dem Willen zur Macht (Adler) vorordnet (1990). Denn die Frage nach dem Sinn des Lebens ist „Ausdruck des Menschseins schlechthin“, nur ihm ist es vorbehalten, seine Existenz als fragwürdig zu erleben ([Frankl 1987], S. 56f) Ausgangspunkt im Franklschen Sinnverständnis ist die existenzielle Wende, wonach der Mensch Zugang zu seiner Existenz findet, sofern er sich als ein von der Situation Befragter versteht. In der verantworteten Beantwortung der aktuellen Lebensfragen erfüllt er den „Sinn des Lebens“. Definitionsgemäß ist Sinn die für die jeweilige Person wertvollste Möglichkeit in der konkreten Situation (Wertetheorie). Insofern ist Sinn grundsätzlich in jeder Lebenssituation auffindbar. In Weiterführung der Schelerschen Wertelehre definiert Frankl drei Wertekategorien als „Wege zum Sinn“:

  1. Erlebniswerte – Wertvolles wird aus der Welt aufgenommen

  2. Schöpferische Werte – Wertvolles wird durch eine Handlung oder Tat in die Welt gegeben

  3. Einstellungswerte – Wert liegt in der Haltung, die als letzte Möglichkeit gegenüber unabänderlichem Schicksal im Wie und für Wen des Leidens eingenommen wird (Selbstgestaltung). Erfahrungen mit Leid, Schuld und Tod („tragische Trias“) gehören nach Frankl zu jeder Existenz.

Die Frustration des „Willens zum Sinn“ führt zum „existenziellen Vakuum“ (Sinnlosigkeitsgefühl mit Apathie, Interessensverlust), das bei längerem Bestehen als „noogene Neurose“ psychopathogen werden kann.[1700]

Selbst-Transzendenz: Die Selbst-Transzendenz markiert das fundamental-anthropologische Faktum, dass menschliches Dasein immer auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden, nämlich entweder auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder aber auf mitmenschliches Dasein, dem es begegnet. Wirklich Mensch wird der Mensch also erst dann und ganz er selbst nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht, im Dienst einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst. Es ist wie mit dem Auge, das seiner Funktion die Welt zu sehen, nur in dem Maße nachkommen kann, in dem es nicht sich selbst sieht. Wann sieht denn das Auge etwas von sich selbst? Doch nur, wenn es krank ist: wenn ich an einem grauen Star leide und eine „Wolke“ sehe oder an einem grünen Star leide und rings um eine Lichtquelle Regenbogenfarben sehe, dann sieht mein Auge etwas von sich selbst, dann nimmt es seine eigene Krankheit wahr. Im gleichen Maße ist dann aber auch mein Sehvermögen gestört.[1701]

Selbstdistanzierung: Im existenzanalytischen Verständnis die Fähigkeit der Person von sich Abstand nehmen zu können. Selbstdistanzierung ist die Voraussetzung der Selbstwahrnehmung, der Auseinandersetzung mit sich selbst, der Stellungnahme zu sich und des zu sich und zur Welt Verhalten-Könnens. Durch die Selbstdistanzierung erfährt sich der Mensch als jemand, der sich selbst gegeben, aber nicht ausgeliefert ist (Person).[1702]

Dereflexion: Ein im Rahmen der Logotherapie von V. Frankl entwickeltes therapeutisches Prinzip, erstmals 1947 in seiner „Psychotherapie in der Praxis“ beschrieben. Die Dereflexion ist eine praktische Umsetzung von M. Schelers Emotionalitätslehre, wonach bestimmte Gefühle und Erlebnisse durch die Aufmerksamkeitszuwendung beeinträchtigt oder gar zerstört werden. Dereflexion ist bei (ängstlichen) Fixierungen der Aufmerksamkeit (Hyperreflexion) auf Erfolg, auf normalerweise unbeachtet ablaufende (vegetative) Funktionen oder bei forcierter Selbstbeobachtung indiziert (vorwiegend bei Schlaf- und Sexualstörungen sowie bei Ängsten). In der Dereflexion wird die Aufmerksamkeit des Patienten von den hyperreflektierten Vorgängen abgezogen und auf Sinnmöglichkeiten hingelenkt, um beengende und neurotische bzw. neurotisierende Teufelskreise aufzubrechen. Es geht dabei nicht bloß um eine Ablenkung, sondern primär um die Zuwendung zu lebenswerten Inhalten. „Etwas ignorieren … kann ich nur, indem ich auf etwas anderes hin existiere“ ([Frankl 1982], S. 177). Durch die Dereflexion soll die Person aus der selbstschädigenden Selbstbeobachtung herauskommen und wieder in die Weltoffenheit finden.[1703]



[1687] [Jung 1971], S. 343.

[1692] Vgl. hierzu [Rothbucher 2002], S. 140ff.

[1694] [Längle 2000], S. 64–66.

[1701] In: [Frankl 1995], S. 20.

[1703] In: Längle, A. (Hg): Lexikon der Existenzanalyse und Logotherapie. GLE Wien 2000.

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