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Kinderprobleme und Elternverhalten (Rüdiger Opelt) – Langtext

Wenn Kinder Probleme haben oder psychosomatische, seelisch verursachte Krankheiten entwickeln, fragen sich die Eltern, was die Ursachen dieser Krankheiten sind, was sie dagegen tun können, welche Erziehungshaltung fördernd oder hinderlich ist. Vielen wird dabei bewusst, dass Kinder wie ein Spiegel sind, in dem wir die Auswirkungen unserer eigenen Persönlichkeit erkennen können.

Es gibt viele Wechselwirkungen zwischen dem Elternverhalten und den Problemen der Kinder. Unsere Stärken erkennen wir daran, dass sie sich positiv auf die Kinder auswirken. Die Schwächen der Kinder erwischen uns nicht selten an den eigenen wunden Punkten. So sind Kinder oft Symptomträger und drücken ein Familienproblem aus, das auch nur Eltern und Kinder gemeinsam lösen können.

Die Lösung der Eltern-Kind-Konflikte liegt im Erkennen der Bedürfnisse, die erfüllt werden wollen, und der Familienthemen, die eine neue Antwort erfordern. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird dann zu einer kreativen Werkstatt, in der gemeinsam bewährte Fähigkeiten genutzt und neue Muster erprobt werden. Mehr dazu finden Sie unter: www.opelt.comund in meinen Büchern (siehe Literaturliste).

Probleme und seelische Krankheiten der Kinder

In 12 Jahren Tätigkeit an der Salzburger Kinderpsychiatrie hatte ich Gelegenheit, mich in die Psychosomatik von Kindern zu vertiefen und die folgenden Ausführungen sind ein Resümee dieser Erfahrung:

Es gibt eine Reihe von Krankheiten bei Kindern, bei denen die Seele mit im Spiel ist. Dabei lässt sich zwischen psychischem Auslöser und der Art der Krankheit wissenschaftlich kein zwingender Zusammenhang herstellen. Im individuellen Fall aber ist oft eine symbolische Botschaft in der Krankheit des Kindes enthalten. So kann man sich fragen, was ein Kind nicht mehr schlucken kann, wenn der Magen rebelliert. Was es nicht verdauen kann, wenn es ständig Bauchweh hat und warum es sich wertlos fühlt, wenn es sich zu Tode hungert.

Kopfschmerz

Wenn wir die Symbolik des Körpers und seiner Symptome betrachten, so beginnen wir oben, beim Kopf: Ins Spital kommen oft Kinder mit ungeklärten Kopfschmerzen, denen die Ärzte somatisch nicht helfen können, die aber monatelang oder jahrelang unter Kopfschmerz leiden. Manchmal berichten die Eltern, dass es in den Ferien oder an Feiertagen keine Schmerzen hat. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Kopfschmerzen mit Schule und geistiger Anstrengung zu tun haben. Wie mir Prof. DDr. E. G. Huber, der damalige Primar des Kinderspitals Salzburg bald aufzeigte, müssen sich Kopfwehkinder aus zwei Gründen zu sehr den Kopf zerbrechen:

Einmal sind da überforderte Kinder, die aus Ehrgeiz der Eltern in einem für sie nicht passenden Schultyp sind: die das Gymnasium schaffen sollen, obwohl ihnen die Hauptschule besser täte, die in der Volksschule gehalten werden, obwohl sie vielleicht in die Sonderschule gehören. Die Kränkung der Eltern, dass das Kind nicht klug genug ist, führt zur Überforderung und diese wiederum zum Kopfschmerz. Ein Wechsel in den richtigen Schultyp bringt den Kopfschmerz meist rasch zum Erliegen. Nun gibt es aber auch ausgezeichnete Schüler, Vorzugsschüler, die an Kopfweh leiden. Diese setzen sich selbst massiv unter Druck, müssen ständig perfekt sein, weinen, wenn sie keinen „Einser“ schreiben und haben trotz bester Noten Angst zu versagen. Obwohl die Eltern diese Kinder nicht zum Ehrgeiz drängen, stecken oft doch Leistungs- und Anerkennungsprobleme dahinter.

Stottern

Wandern wir den Körper entlang tiefer zu Mund und Hals, so finden wir Kinder mit psychogenen Sprachproblemen, wie Stottern oder Mutismus. Das stotternde Kind möchte etwas sagen, bringt es aber nicht richtig heraus, das mutistische Kind redet überhaupt nicht oder schweigt gegenüber bestimmten Personen, wie z. B. der Lehrerin. Bei diesen Sprachschwierigkeiten geht es darum, ob ein Kind wirklich den Mund aufmachen darf und ob ihm die Erwachsenen wirklich die freie Rede erlauben; oder ob vielmehr der Ausdruck des Kindes unbewusst zensuriert wird, sodass das Kind beim Sprechen in Anspannung gerät, seine Mundmuskulatur verkrampft und eben stottert. Viele von Ihnen werden erlebt haben, dass man sich bei einem sehr autoritären Chef plötzlich verhaspelt oder etwas nicht mehr herausbringt, weil man spürt, „der will ja gar nicht, dass ich etwas sage“. In einer ähnlichen Situation ist das stotternde Kind. Ein Beispiel: Ein Jugendlicher, Sohn eines Unternehmers, stottert, obwohl, wie die Eltern beteuern, es ihm an nichts fehle und er von den Eltern alles haben könne. In einer längeren Psychotherapie entdeckt dieser Jugendliche schließlich, dass er noch nie die Gelegenheit hatte, eigene Gedanken zu denken oder auszusprechen, da die Eltern ein Leben lang auf ihn einredeten, wie er was, wo tun solle, wann er die Firma übernehmen solle, wie sie auszubauen sei etc. Es war also Zeit, endlich den Mund aufzumachen und eigene Vorstellungen zu äußern, womit die Intensität des Stotterns abnahm.

Schulphobie

Wandern wir weiter vom Kopf zum Hals, so finden wir Kinder, die über morgendliche Übelkeit und Erbrechen klagen, ohne dass der Arzt etwas findet. Diese Übelkeit hält oft wochenlang an und verhindert den Schulbesuch, vor dem diese Kinder panische Angst entwickelt, obwohl nach Aussagen der Lehrer dafür kein Grund vorhanden ist, da sie doch gute Schüler sind und beliebt bei den Mitschülern. Nach Erfahrung der Salzburger Kinderpsychiater Dr. Christian Groß und Dr. Manfred Biebl handelt es sich dabei um Schulphobien, welche eigentlich nicht eine Angst vor der Schule sind, sondern eine Angst, von zu Hause wegzugehen. Diese Kinder können sich nicht von den Eltern trennen, bleiben zu Hause, um auf einen Elternteil aufzupassen oder ihn zu beschützen. Ein 14-Jähriger zum Beispiel ging nicht in die Schule aus Solidarität mit seiner Mama, die vom Vater abwechselnd beschimpft, schlecht behandelt oder verlassen wurde. Der Bub fühlte sich moralisch verpflichtet, ihr beizustehen und deshalb verließ er das Haus nicht mehr. In solchen Fällen ist es besonders wichtig, dass das Kind trotz dieser Zustände in die Schule geht und lernt, sich von den Eltern trennen zu dürfen und zu können.

Übergewicht

Wandern wir weiter zu Speiseröhre und Magen, so finden wir Kinder, die übergroße Mengen an Nahrung und Süßigkeiten in sich hineinstopfen, was sie naturgemäß mit erheblichem Übergewicht bezahlen. Dies ist insofern ein Problem, da übergewichtige Kinder meist übergewichtige Erwachsene werden, was wiederum die Lebenserwartung verkürzt und das Krankheitsrisiko erhöht.

Unsere Untersuchungen am Salzburger Kinderspital, gemeinsam mit Oberarzt Dr. Andre Golser, haben Folgendes gezeigt: Überernährte Kindern sind oft seelisch unterernährt, unterbetreut. Sie erhalten zu wenig Zuwendung und niemand hat Zeit für sie. Ein Musterbeispiel dafür ist das Schlüsselkind – beide Eltern arbeiten, das Kind ist am Nachmittag alleine und plündert aus Langeweile den Kühlschrank. Das übermäßige Essen ist ein Versuch, die fehlende Zuwendung zu kompensieren.

Die Fehlernährung kann aber auch mit einer Fehlbetreuung zusammenhängen: dabei werden alle Wünsche und Anliegen des Kindes stereotyp mit Füttern und Essen beantwortet. Ein Beispiel dafür ist Michael: seine Eltern hatten keine Zeit für ihn, da sie beide ins Gasthaus auf Saison gehen mussten. Deshalb ließen sie ihn bei den Großeltern, wobei er sich abwechselnd bei den mütterlichen und bei den väterlichen Großeltern aufhielt. Diese überboten sich gegenseitig in der Nahrungsversorgung des Enkels und dieser wurde bald kugelrund. Essen war hier Ersatz für die fehlende Zuwendung der Eltern und die übermäßige Zuwendung der Großeltern machte das Problem nur noch schlimmer. Bei solchen Kindern ist es besonders wichtig, dass sie ihre echten Bedürfnisse wahrnehmen lernen, dass sie nicht nur Hunger haben, sondern auch das Bedürfnis, sich zu bewegen, etwas zu unternehmen, Geborgenheit zu spüren, Aggression ausdrücken zu wollen usw. Sie müssen das richtige Maß an Zuwendung von der richtigen Seite erhalten.

Nabelkoliken

Wandern wir im Körper noch etwas tiefer, so finden wir Kinder mit diffusen Bauchschmerzen, so genannten Nabelkoliken. Fragt man die Kinder, wo’s weh tut, so zeigen sie auf die Gegend um den Nabel herum, die klinische ärztliche Untersuchung bleibt aber ohne Befund. Es handelt sich dabei um Faktoren, die das Kind schon bewältigt, aber doch nicht ganz ohne Probleme. Typisch dabei ist, dass oft nicht nur die medizinische, sondern auch die psychologische Untersuchung ohne Auffälligkeit bleibt. Es sind also Kinder, denen bei durchaus normaler Lebenssituation eine Laus über die Leber gelaufen ist. Die Bauchschmerzen sind das erste Symptom, das ein Kind präsentiert. Jedes Kleinkind wird, wenn es traurig ist und dies aber noch nicht benennen kann, auf den Bauch zeigen und sagen, dass es da weh tut. Wenn man es tröstet und beruhigt, ist das Bauchweh oft schnell wieder weg. Genau so sind Bauchschmerzen ein erstes Signal, dass ein Kind sich nicht wohl fühlt, wobei meist noch kein großer Schaden entstanden ist und sich die Schmerzen rasch wieder verflüchtigen können, wenn man auf das Kind eingeht.

Hyperkinetiker

Gehen wir weiter zu den Gliedmaßen, so stoßen wir auf die Hyperkinetiker: Kinder, die nie ruhig sitzen können, „Nervensägen“, die ständig etwas anstellen, „Zappelphilipps“, bei denen ständig etwas fliegt. Diese Kinder haben auf Grund ihrer Unruhe Konzentrations- und Schulprobleme und werden in den Schulklassen rasch zu Sündenböcken. Medizinisch werden hier konstitutionelle Faktoren vermutet, sind aber nicht bewiesen. Diese Störung beginnt meist im Säuglingsalter, weshalb Kinderärzte Ursachen in den Reifungsprozessen vor und nach der Geburt vermuten. Auf der Heilpädagogik Salzburg werden sie deshalb medikamentös behandelt. Psychologisch lässt sich aber feststellen, dass diese unruhigen Kinder beunruhigte Kinder sind, die keine Chance haben, zur Ruhe zu kommen. Manchmal sind ihre Eltern sehr hektisch, meist gibt es viel Chaos und Veränderung wie häufige Übersiedlungen, häufiger Wechsel der Bezugspersonen und Änderungen in den Erziehungsregeln. Die Familie ist oft in einer Art Gärungsprozess, in welchem sich noch keine Ordnung etablieren konnte. Das chaotische Verhalten des Kindes spiegelt dann das äußere Chaos wider. Die Kinder verhalten sich quasi wie ein irritierter Säugling: dieser schreit und zappelt mit allen Vieren und beruhigt sich erst, wenn er von der Mutter aufgenommen und beruhigt wird. Wenn die Mutter ihn aber nicht beruhigen kann, sondern selbst nervös ist und die Fassung verliert, dann eskaliert das Schreien des Säuglings. Therapeutisch lässt sich feststellen, dass Hyperkinetiker am besten gedeihen, wenn sie durch ein sehr ruhiges, konsequentes Erziehungssystem mit klaren Regeln und ohne dramatische Überreaktion der Erwachsenen gehalten werden.

Aggressivität

Mit dem oben Genannten nahe verwandt ist das Problem der Aggressivität bei Schulkindern. Salzburger Lehrer klagen in den letzten Jahrzehnten vermehrt über Kinder, die ihre Mitschüler schlagen, mit dem Zirkel stechen, würgen, im Klassenverband schwer zu halten sind, da sie eine Gefahr für die Mitschüler werden. Die Untersuchungen am Salzburger Kinderspital zeigten dafür drei Ursachen auf:

Eine Ursache dafür kann sein, dass sich unsere Gesellschaft immer rascher ändert und die Kinder oft nicht mehr mithalten können, da ihr Leben durch Reizüberflutung und Veränderung tatsächlich immer chaotischer wird. Manche Kinder schlagen deshalb wild um sich, weil sie einfach nicht mehr können und sich nicht mehr auskennen. Sie haben sicher schon mal erlebt, dass Sie im Beruf oder zu Hause total überlastet waren, und kurz vor dem Zusammenbruch bekommt man plötzlich einen Wutanfall und sagt Dinge, zu denen man sich normalerweise nicht hinreißen ließe. Aggressive Kinder sind oft ständig in so einer Stresssituation. Daher muss man wie bei den Hyperkinetikern versuchen, eine ruhige, klare Situation herzustellen und sollte Veränderungen hinauszögern oder vermeiden.

Eine zweite Ursache der Aggression bei Kindern sind aggressive Vorbilder, z. B. Alkoholiker als Väter, die im Rausch zu Hause alle verprügeln oder alles kurz und klein schlagen. Hier imitieren die Söhne einfach das Verhalten des Vaters und spielen auch den „wilden Mann“, weil es in so einem Familiensystem offenbar als Täter leichter ist, denn als Opfer. In solchen Fällen muss man versuchen, die Vorbilder zu ändern.

Eine dritte Gruppe sind Söhne, die von ihren Müttern mit zu viel Liebe verschlungen werden und keine Chance haben, Autonomie und Selbständigkeit zu erlangen. Aggression bedeutet hier: „Jetzt lass mich doch endlich in Ruh“. Wenn das Gegenüber das aber nicht verstehen kann und nicht auslässt, müssen die aggressiven Distanzierungsversuche immer heftiger ausfallen. Wenn auch das nicht die notwendige Freiheit bringt, entsteht im Kind die Phantasie, es könne nur frei werden, wenn es seine Eltern vernichtet. Tatsächlich ist diese so genannte symbiotische Aggression so destruktiv, dass sie Menschen letztlich zu Mördern machen kann, wie es Hitchcock sehr deutlich in seinem Film „Psycho“ dargestellt hat: Hier wurde ein junger Mann von seiner Mutter ein Leben lang so festgehalten, dass er schließlich die Mutter tötete. Er fühlte sich aber über den Tod hinaus so in diesem System von Zwang und Schuld gefangen, dass er jede Frau töten musste, in die er sich verliebte. In den Gerichtsakten werden Sie solche destruktiven Konstellationen des Öfteren vorfinden. Umso wichtiger ist es, diesen Kreislauf im Kindesalter zu durchbrechen.

Neurodermitis

Gehen wir im Körper von innen nach außen, so stoßen wir auf das sensible Organ der Haut. Hier gibt es eine psychosomatische Erkrankung, die so genannte Neurodermitis, bei welcher sich mehr oder weniger große Hautregionen immer wieder entzünden, jucken; das Kind muss sich ständig kratzen, ist unruhig und kann vor Juckreiz nicht still sitzen. Bei dieser Störung zeigt sich manchmal, dass ein Erwachsener dem Kind zu dicht auf den Pelz rückt. Der Elternteil hat ein großes Bedürfnis nach Nähe und Berührung, sodass er das Kind förmlich damit erdrückt und die Haut dieses Kindes reagiert allergisch auf dieses Übermaß an Berührung.

Ein Beispiel: Der Lieblingssohn einer jungen Mutter hat Neurodermitis. Die Mutter wird von ihrem Mann viel alleine gelassen, da dieser einen Betrieb aufbaut. Die Mutter weist jede psychische Krankheitsursache von sich, denn gerade ihr Andreas würde ja am meisten Liebe von ihr bekommen, also könne es ihm an nichts fehlen. Mutter und Sohn scheinen zunächst ein Herz und eine Seele zu sein. Kommt man aber länger mit ihnen ins Gespräch, so schlägt die anfängliche Sanftheit ganz plötzlich in Aggression und Kritik um und man wird rasch zum Sündenbock, ohne recht zu wissen, warum. Es wird deutlich, dass in dieser aggressiven Stimmung die Haut des Sohnes „ausschlägt“ und die Stacheln aufstellt, um jede Berührung von sich fern zu halten.

Selbstmord

Es ist für Eltern sehr beängstigend, wenn Jugendliche versuchen, sich umzubringen oder auch nur damit drohen. Eine schlechte Note ist oft der letzte Auslöser für den Wunsch, endlich Ruhe zu haben, indem man eine Hand voll Tabletten schluckt. Es sind dies meist Kinder, die nicht gelernt haben, über ihre Probleme zu reden. In der Familie herrscht große Sprachlosigkeit, Probleme werden verdrängt und tabuisiert. In diesem Kind stauen sich Aggressionen auf, die aber aus Angst vor Streit nicht geäußert werden und sich daher gegen sich selbst richten. In der Sprachlosigkeit kann sich die Aggression nur im Suizid entladen, welcher aber ein letzter Hilfeappell ist: „Hört mir doch endlich zu, nehmt mich endlich wahr!“. So war es auch bei Konrad, der scheinbar bestens funktionierte, bis er sich eines Tages mit der Waffe seines Vaters den Schädel verletzte. Er überlebte mit viel Glück und die entsetzten Eltern begannen endlich zu erzählen. Sie waren beide frühe Waisenkinder, von ihren Eltern durch Tod allein gelassen. Sie hatten ein Leben lang gearbeitet, damit ihre Kinder es einmal besser hätten und nun sei dies der Dank. Hier mussten alle Familienmitglieder lernen, endlich miteinander zu reden, ihre Schmerzen und Ängste nicht mehr zu verdrängen.

Aufgrund der großen Selbstmordproblematik in Salzburg wurde von der Christian-Doppler-Klinik ein eigenes Projekt der Suizidprophylaxe unter Leitung von Dr. Reinhold Fartacek gestartet.

Die Bedürfnisse des Kindes

Eine gute Eltern-Kind-Beziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bedürfnisse des Kindes erfüllbar sind und der emotionale Austausch zwischen Eltern und Kind frei fließen kann. Was braucht also ein Kind, um gut zu gedeihen und nicht krank zu werden?

Die Persönlichkeit des Kindes respektieren

Vielleicht sollten wir unseren Kindern begegnen wie ein guter Gärtner, der in der richtigen Weise für seine Pflanzen und Bäume sorgt. Dieser kennt den richtigen Boden für jede Pflanzenart, die richtige Menge Wasser, Licht und Luft. Erste Bedingung einer guten Elternschaft ist, dass wir unser Kind kennen: seine Persönlichkeit, Vorlieben und Interessen. So wie ein Gärtner weiß, dass er mit allem Energieeinsatz aus einer Rose keine Tulpe machen kann und aus einem Strauch keinen Baum, so dürfen wir nicht der Versuchung unterliegen, das Wesen des Kindes ändern zu wollen oder zu sehr in den Weg des Kindes einzugreifen. Jedes Kind kommt schon mit einem bestimmten Temperament auf die Welt, es hat in sich schon den Samen seiner Anlagen, bestimmte Pläne, ja vielleicht sogar ein bestimmtes Schicksal, das es leben will. Es kann ein Kind krank machen, wenn ein Elternteil ein fixes Bild über das Kind drüberstülpt, das der Entwicklung des Kindes keinen Raum lässt. Oft wünschen sich Eltern, dass das Kind die unerfüllten Sehnsüchte der Eltern auslebt und sie treiben das Kind dann in die Verweigerung oder in die Krankheit. Wenn etwa ein ehrgeiziger Vater aus seiner sehr gefühlsorientierten Tochter eine leistungsorientierte Sportlerin machen will, so ist dies vielleicht die Ursache einer Magersucht. Wenn ein praktisch veranlagter Sohn unbedingt studieren soll, weil der Vater Akademiker ist, so kann dies einem der Beteiligten durchaus Kopfweh verursachen.

Ein sicheres Nest

Bei aller Individualität gibt es aber durchaus gemeinsame Bedingungen, die für jedes Kind gegeben sein müssen, damit es sich wohl fühlen kann. Jedes Kind braucht einen festen Boden unter den Füßen, indem es sich verwurzeln kann. Jedes Kind benötigt Halt und klare Strukturen, an denen es sich orientieren kann. Es ist daher wichtig, dass es weiß, wo es hingehört, wer seine Familie ist und wer seine Eltern sind. Wenn Kinder zu oft „verpflanzt“ werden auf verschiedene Pflegeplätzen – mal zu den Großeltern und dann wieder zu den Eltern kommen –, so werden sie krank wie ein Baum, der zu oft entwurzelt wurde.

Klare Regeln

Das Kind benötigt klare Grenzen, die Sicherheit vermitteln. Einkoten ist z. B. ein verstecktes Zeichen, dass ein Kind sich nach Richtlinien sehnt, wann und wo man sein Geschäft verrichtet und es spürt, dass die Strukturen der Familie ungeordnet oder deplatziert sind. Auch bei hysterischen Schmerzzuständen mag die Wurzel darin liegen, dass ein Kind in einer so wechselhaft unüberschaubaren Umgebung lebt, dass es quasi das äußere Chaos in seinem Körper und in seinem Verhalten widerspiegelt und ein chaotisches Kind wird, das dann seine Umgebung nervt.

Zuwendung

Kinder, die ohne liebende Bezugsperson sind, gehen zugrunde und können an Zuwendungsmangel sogar sterben. Leider gibt es sehr viele Kinder, die unerwünscht zur Welt kommen und von den Eltern abgelehnt werden. So war es etwa im Falle eines Jugendlichen, der scheinbar unmotiviert einen Selbstmordversuch unternahm, obwohl familiär und schulisch alles in Ordnung zu sein schien und er also gar keinen Grund für seine Tat hatte. In der Therapie stellte sich dann heraus, dass seine Mutter ihn ständig abgelehnt hatte, da sie wegen seiner Geburt den ungeliebten Mann heiraten musste und sie somit dem Kind unbewusst Schuld an der schlechten Ehe gab. Die Selbstvernichtung des Mannes schien also die logische Konsequenz aus dem „Nicht-in-der-Welt-erwünscht-Sein“ zu sein.

So wie jeder schon erlebt hat, dass eine Pflanze zu viel gegossen wurde und ihr dies nicht mehr gut tat, so kann ein Kind aber auch mit zu viel Liebe erdrückt werden. So war es etwa bei einem 13-Jährigen, welcher mit diffusen Kreislaufbeschwerden ins Spital kam, die organisch ohne Befund blieben. Es stellte sich heraus, dass er als einziger Sohn der Liebling seiner allein stehenden Mutter und der Großmutter war, welche ihn beide mit Fürsorge so überhäuften, was seinem Herzen offensichtlich nicht gut bekam. In der Therapie war es notwendig, ihn aus dieser übergroßen Liebe herauszuführen und möglichst selbständig werden zu lassen. Schließlich führte erst die Volljährigkeit und der Auszug aus der mütterlichen Wohnung zu einem Verschwinden der Beschwerden.

Autonomie

Neben Einfühlung, Struktur und Liebe braucht das Kind genug Raum, um sich entfalten zu können. Es braucht Freiräume, in denen es experimentieren und eigene Erfahrungen machen kann, ohne sofort von den Erwachsenen kritisiert zu werden. Es muss auch Fehler machen dürfen und Risiken eingehen, um Selbständigkeit erlangen zu können. Ein Kind lernt nur Laufen, wenn es auch mal auf die Nase fällt und erlebt, dass dies kein Drama ist. Wird der Freiraum eines Kindes zu sehr eingeengt, so wird es vielleicht unselbstständig und ängstlich bleiben. So war es etwa bei einem Buben, der mit massiven Angstzuständen und Selbstzweifeln zu mir gebracht wurde. Dabei stellte sich heraus, dass er von seinen Eltern massiv am Gängelband gehalten wurde, nicht alleine auf die Straße durfte, dass die Eltern ständig auf ihn einredeten, was er tun solle und was er nicht tun dürfe. Verständlicherweise hatte das Kind bei jedem Handlungsimpuls Angst, alles falsch zu machen und so konnte es kein Selbstbewusstsein entwickeln. Speziell bei Asthma-Kindern gewinnt man manchmal den Eindruck, dass ihnen buchstäblich die Luft zum Atmen fehlt und dass sie an einer zu großen Einengung durch die Umwelt zu ersticken drohen.

Man kann einem Kind aber auch zu viel Freiraum geben. Dies ist speziell bei verwahrlosten Kindern der Fall, wo es den Eltern egal ist, was sie tun und die zu sehr auf sich allein gestellt sind. Diese Kinder lernen dann nicht, sich in eine Gemeinschaft einzufügen und werden dadurch rasch zu Außenseitern. Sie setzen dann simulierte Krankheiten und Schmerzzustände ein, um sozialen Anforderungen auszuweichen. So war es etwa bei einem Hauptschüler, der ständig die Schule schwänzte, weil er angeblich unter schrecklichen Bauchschmerzen litt. Diese ließen sich aber medizinisch trotz aller Untersuchungen nicht verifizieren. So war es dann wichtig, die Eltern aufzuklären, dass das Kind sehr wohl gesundheitlich in der Lage war, die Schule regelmäßig zu besuchen. Dabei stellte sich leider heraus, dass das Verhalten des Kindes sein schlechtes Milieu widerspiegelte und er von zu Hause nicht die richtige Anleitung erhielt – auch die Eltern flüchteten sich in Krankheiten, um nicht arbeiten gehen zu müssen.

Vorbilder

Als Letztes nach Verständnis, Struktur, Liebe und Freiraum benötigt das Kind Orientierung und Vorbilder. So wie die Pflanze zum Licht wächst, so benötigt das Kind ein positives Leitbild, welches ihm Mut macht, ins Leben hinauszugehen. Es scheint so zu sein, dass Mädchen ein weibliches Vorbild, Buben ein männliches Vorbild brauchen. Wenn der maßgebende Elternteil für die Identifizierung fehlt oder als Vorbild ungeeignet ist, so kann es sein, dass das Kind das Erwachsenwerden überhaupt verweigert oder dass ihm der Mut fehlt, sich ins Leben hinauszuwagen. So weigerte sich etwa ein magersüchtiges Mädchen, zur Frau heranzuwachsen, weil es absolut nicht so werden wollte wie seine Mutter, welche frustriert zu Hause saß, auf den Mann wartete, der selten kam, sich keine eigene Meinung erlaubte, mit ihrem Leben unglücklich war, aber noch mehr Angst hatte, an Veränderungen nur zu denken. In der Therapie stellte sich heraus, dass über viele Generationen die Frauen der Familie ein unglückliches und wenig erstrebenswertes Leben im Schatten der Männer geführt hatten. Damit war die Entscheidung des Mädchens, keinen weiblichen Körper zu entwickeln, durchaus verständlich geworden.

Bei den Buben wirkt sich besonders die Abwesenheit der Väter in unserer „vaterlosen“ Gesellschaft aus. Wenn sich bei ledigen Söhnen die Väter nie um ihren Nachwuchs gekümmert haben, durch Scheidung abhanden kommen oder durch Arbeitsüberlastung nie Zeit für den Sohn haben, so hinterlassen sie bei den Söhnen große Mut- und Ratlosigkeit. Wenn da nie jemand ist, der einem auf die Schulter klopft und sagt, „Gut so, mach weiter so, du schaffst es!“, so kann kein Vertrauen in die eigene Leistung und Kraft entstehen. Viele depressive Zustandsbilder, vegetative Dystonie, Hypochondrien und Kreislaufprobleme haben ihre Wurzeln in der Mutlosigkeit aufgrund fehlender Vorbilder. Bei vielen Schulphobien und Leistungsängsten, Lehrstellenabbrüchen findet sich dieses Fehlen des Vaters als Hintergrund.

Es kann aber auch hier ein Zuviel geben, das Vorbild des Vaters zu perfekt und unerreichbar sein wie im Falle eines Jugendlichen, der einen erfolgreichen Manager als Vater hatte. Er versuchte es ihm immer wieder nachzumachen, steckte sich dabei die Ziele zu hoch und unrealistisch und bezog deshalb immer neue Niederlagen, bis er schließlich bei kleinsten Schwierigkeiten sich von der Lehrstelle krankmeldete, um neue Frustrationen zu vermeiden. Auch der Bereich der Prüfungsängste, welche mit nervösen Beschwerden, Schlaflosigkeit, Erbrechen etc. einhergehen, gehört hierher. Hinter den Versagensängsten der Kinder stehen oft die Versagensgefühle ihrer Eltern, Gefühle des beruflichen Scheiterns, Arbeitslosigkeit.

Das Kind wahrnehmen

Das Erkennen der Bedürfnisse des Kindes hat eine sehr positive Seite. Ich brauche nur auf das Kind zu horchen, genau hinzusehen, mich auf mein inneres Gefühl zu verlassen, wann immer es ein Problem gibt. Gesunde und aufgeschlossene Eltern werden daher bei jedem Problem, mit dem ein Kind sie konfrontiert, die richtige Antwort finden können und das Problem löst sich dann relativ rasch wieder auf. Wann immer es einem Kind nicht gut geht, dann sind folgende Fragen hilfreich:

Hat mein Kind genügend Sicherheit oder ist es durcheinander, weil in letzter Zeit viel drunter und drüber gegangen ist? – Dann hilft es dem Kind, möglichst viel Regelmäßigkeit in den Alltag zu bringen und Änderungen und Inkonsequenz zu vermeiden.

Habe ich genug Zeit für mein Kind gehabt oder war es zuviel auf sich selbst gestellt? – Dann lösen sich viele Probleme durch liebevolle Zuwendung auf oder dadurch, dass ich mit dem Kind Zeit alleine verbringe.

Mache ich meinem Kind unnötige Vorschriften und enge ich es vielleicht überbesorgt ein? – Dann ist es Zeit, mein Kind loszulassen und ihm eigene Wege zu erlauben, und ich werde vielleicht überrascht sein, was das Kind dann alles selbst zusammenbringt.

Gebe ich meinem Kind genug Orientierung oder lasse ich es mit seinen Fragen allein? – Dann ist es vielleicht Zeit, von meinem Leben zu erzählen, von den Problemen, die das Leben so bringt, und von den Lösungen, die man selbst gefunden hat. Sie werden überrascht sein, wie aufmerksam das Kind Ihnen zuhört.

Ein wichtiges Prinzip ist dabei, auf das eigene Gefühl zu horchen, dann wird im Allgemeinen die richtige Lösung im Umgang mit dem Kind gefunden. Dabei dürfen auch die Eltern Fehler machen, da ein Kind durchaus eine gewisse Toleranz gegenüber Frustrationen hat.

Störungen der Eltern-Kind-Beziehungen

Wir haben nun die Zusammenhänge zwischen dem kindlichen Erleben und den Erziehungshaltungen der Eltern behandelt. Sie werden sich nun vielleicht fragen, wie es zu schädigenden Entgleisungen in der Eltern-Kind-Beziehung kommt und wie überhaupt die Persönlichkeit der Eltern die Persönlichkeit des Kindes prägt. Ein Grund liegt darin, dass auf das Kind und seine Familie oft Schicksalsschläge und Traumata einwirken, die nicht in der Macht des Einzelnen stehen.

Sichtbare Ursachen

Hier seien nur die vielen Trennungen und Scheidungen genannt, Ehestreitigkeiten und Eheprobleme, die naturgemäß dem Kind nicht gut tun. Weitere Schicksalsschläge sind der frühe Tod eines Elternteils oder auch die Notwendigkeit, ein Kind auf einen Pflegeplatz unterbringen zu müssen, weil materielle Not beide Eltern zum Arbeiten zwingt. Durch Krieg und Vertreibung, wie wir es in Bosnien oder im Irak beobachten konnten, werden Eltern von ihren Kindern getrennt. Dies hinterlässt schwere Schockerlebnisse beim Kind. Auch wenn eine Mutter ihr Kind zur Adoption freigibt, kann dies ein psychisches Trauma hinterlassen, selbst dann, wenn das Kind zu einer liebevollen Adoptivfamilie kommt. Auch wenn der Vater arbeitslos wird und zum Alkohol greift, entsteht für die Kinder ein großer Stress.

Jedes Kind hat ein legitimes Bedürfnis nach einem normalen Familienleben mit Mutter und Vater. Jedes Zerbrechen der familiären Geborgenheit, sei es durch Scheidung, Krankheit oder Tod, durch existenzielle oder soziale Notlagen, führt in der Psyche der Kinder zu gravierenden Verletzungen, sofern die schädigenden Ursachen nicht rasch wieder beseitigt werden. Psychische Belastungen sind sehr verständlich bei Kindern, die quasi aus dem Nest fallen und sozusagen nicht mehr in die Geborgenheit zurückfinden können. Probleme oder Erkrankungen der Kinder sind dann meist ein Hilferuf, der zeigen soll, dass das Kind mit den Belastungen seines Lebens alleine nicht fertig werden kann. Auch bei sexuellem oder gewalttätigem Missbrauch muss das Kind oft krank oder schwierig werden, um aus seiner schrecklichen Missbrauchssituation entfliehen zu können, da ihm meist von den Tätern weitere Gewalt angedroht wird, falls es den Missbrauch verraten sollte. In all diesen Fällen ist es offensichtlich, dass ein Kind nicht gedeihen kann und krank wird.

Versteckte Ursachen

Nun gibt es aber Fälle, in denen dieser logische Zusammenhang – Verlassensein, Schicksalsschläge und Gewalt machen krank – sich auf den ersten Blick nicht erkennen lässt. Es handelt sich dabei um Kinder mit Angstzuständen oder Schmerzzuständen, die in eine familiäre Geborgenheit eingebettet sind, die nichts zu wünschen übrig lässt. Die Eltern sagen dann Folgendes: „Ich weiß nicht, was mein Kind hat, wir geben ihm doch alles, wir sind immer da, wir haben Zeit, wir hören ihm zu und wir schlagen es nicht! Wir verstehen nicht, was mit unserem Kind los ist!“ Bei dieser Gruppe von unerklärbaren psychischen Angstzuständen von Kindern zeigt sich z. B. folgendes Phänomen:

Die Mutter oder der Vater berichten, sie selbst hätten sehr bald einen Elternteil verloren, kamen auf einen Pflegeplatz oder wurden von Verwandten aufgezogen, waren also Waisenkinder, die unter einem frühen Elternverlust zu leiden hatten. Und es zeigt sich des Weiteren, dass die Trennungsängste des Kindes zwar nicht zum Leben des Kindes passen, aber eine adäquate Antwort auf den realen Trennungsverlust dargestellt hätten, den der jeweilige Elternteil erlitt. Dazu ein Beispiel:

Ein sehr ängstliches Kind mit vegetativen Symptomen wird ins Spital eingeliefert, weil es sich seit Monaten krank fühlt, deshalb oft in der Schule fehlt. Es kann abends nicht einschlafen, da es Angst hat, verlassen zu werden, fantasiert, ein Elternteil könne sterben oder verschwinden. Das Kind ist körperlich gesund und an seiner gegenwärtigen psychischen Situation findet sich nichts Auffälliges. Die Ängste des Kindes scheinen also unbegründet und je nach Stand wird das Kind als neurotisch, als verrückt, sein Verhalten als inadäquat oder als konstitutionell bedingt erklärt. Der einzige Hinweis ergibt sich aus der Aussage der Mutter, sie sei manchmal selbst nervös und ängstlich. Sie habe sich als Kind oft einsam gefühlt, weil ihre Mutter nie sehr herzlich war und der geliebte Vater sie immer auf Distanz hielt. Danach stellt sich heraus, dass die Großmutter bei einer Tante aufwuchs, der Vater der Mutter mit 3 Jahren Vollwaise war und zu Pflegeeltern kam. Plötzlich ergeben die Verlassenheitsängste dieses Kindes einen Sinn. Beide Großeltern mütterlicherseits waren tatsächlich verlassene Kinder, Waisenkinder, die den Schmerz des frühen Elternverlustes ein Leben lang nie verkraften konnten und die Angst vor dem Verlassenwerden an die Tochter weitergaben und die gab die ängstliche Botschaft wiederum an ihre Tochter, die Enkelin, weiter, die dann das ursprüngliche Trauma scheinbar grundlos zum Ausdruck brachte. Dies ist ein Beispiel dafür, dass psychosomatische Krankheiten, die so genannte unbewusste Ursachen haben, sehr wohl einen Sinn ergeben, wenn wir nicht dieses Kind isoliert sehen, sondern den Blick auf die letzten drei Generationen und auf einen Zeitraum von ca. 30–60 Jahren ausweiten.

Generationenverschiebung

Viele Kinderprobleme, die auf den ersten Blick unverständlich sind, erklären sich aus der Überlieferung des thematischen Zusammenhangs von einer Generation auf die nächste. Diesen Vorgang nenne ich Generationenverschiebung, analog zum psychoanalytisch definierten Abwehrmechanismus der Verschiebung. Dabei wird ein Affekt aus dem thematischen Zusammenhang gerissen und einer anderen Situation zugeschoben, wo er dann in inadäquater Weise hervorbricht.

Musterbeispiel: Ich fühle mich von meinem Chef kritisiert, meinen Zorn auf den Chef herauszulassen, ist jedoch so angstbesetzt, dass ich den Zusammenhang Chef = Ärger verdränge. Der Ärger ist damit aber nicht zu Ende. Ich nehme ihn mit nach Hause, verschiebe ihn auf meine Ehefrau und fange zu Hause einen Streit an, der für meine Ehefrau zurecht als völlig inadäquat erscheint, da sie mir ja gar keinen Grund zum Streit gegeben hat. Es werden somit Ursache und Wirkung – jemand ärgert mich und auf diesen bin ich wütend – auseinander gerissen und der Affekt wird verschoben.

Dieser Abwehrmechanismus ist bei einem so massiven Trauma, wie es der Verlust der Eltern durch Tod oder Fremdunterbringung darstellt, überlebensnotwendig. Die Eltern- oder Großelterngeneration, die als Waisen oder Pflegeplatzkinder aufwuchs, musste die damit verbundenen Affekte verdrängen, da in der Regel niemand da war, der diesen Menschen gefühlvoll oder psychotherapeutisch half, ihr Trauma zu verarbeiten. Das Trennungstrauma wird damit zu einem verfestigten Erinnerungsmuster, das alle weiteren Trennungssituationen prägt. Oft konnten sich die Eltern ein Leben lang nie an die Verarbeitung dieses Schmerzes heranwagen. Die verfestigte Erlebnisstruktur nehmen sie daher mit in die Situation mit ihren eigenen Kindern. Immer dann, wenn das Kind normale Trennungsschritte vollzieht – also z. B. Ablösung von der Mutter, Ablösung im Sinne der Einschulung, Ablösung im Sinne der Pubertät –, wird bei den Eltern das ursprüngliche Trennungstrauma aktiviert, bleibt aber weiterhin verdrängt. Der Affekt der Trennungsangst wird dann vom verdrängenden Elternteil dem Kind zugeschoben, welches dann mit massiven Trennungsängsten, z. B. im Sinne einer Schulphobie, reagiert. Verrückte Zusammenhänge erklären sich dann aus dem zeitlichen Auseinanderrücken von Ursache und Wirkung.

Familienprobleme

Wenn eine Familie über lange Zeit in bestimmten Problemen stecken bleibt, weil sie schicksalhaft traumatisiert ist, dann kann sie sich über Generationen nicht von einem bestimmten Thema lösen. Die ganze Familienstruktur organisiert sich um dieses Problem herum. Man kann sich das etwa so vorstellen wie bei einem Baum, der z. B. auf einen Felsen als Hindernis stößt und dann um ihn herumwachsen muss und dadurch seine spezielle Form erhält. Solche Problemstrukturen sind folgende:

Armut: Das Fehlen von Geld und materiellen Ressourcen wirkt sich auf den gesundheitlichen und seelischen Zustand des Kindes negativ aus. Es bleibt keine Zeit für die Erziehung der Kinder, auch nicht für die Regelung von Partnerschaftsproblemen, alle Familienvorgänge werden dem Geldverdienen untergeordnet. Die Zuwendungsbedürfnisse der Kinder bleiben oft defizitär.

Sozialer Abstieg: Es gibt gar nicht so wenige Familien, die früher begütert waren, im Zuge von Kriegsereignissen, Enteignungen, aufgrund von Spielsucht oder Fehlspekulationen diesen Besitz aber verloren haben. Solche Familien entwickeln oft Mythologien, die den Zweck haben, an der alten Größe festzuhalten und um sich mit der Realität der Verarmung nicht konfrontieren zu müssen. Es gibt dabei oft ein System von Fassaden und Schwindeleien, die Kinder wachsen in verschiedenen Doppelbödigkeiten auf. Gerade die Identifikation des Sohnes mit dem Vater oder auch der Tochter mit der Mutter ist hier durch Ambivalenz und Doppelbödigkeit geprägt.

Chronische Krankheiten: Ein Familienmitglied ist über lange Zeit krank, alle anderen müssen auf dieses Familienmitglied Rücksicht nehmen. Ein Beispiel dafür sind z. B. Leukämie-Kinder. Die Angst, dass das Kind stirbt, bewirkt, dass alle anderen Lebensbezüge der Familie demgegenüber nebensächlich erscheinen. Die Partner haben keine Zeit mehr füreinander, da sie abwechselnd beim kranken Kind sind. Die Geschwister des kranken Kindes fühlen sich vernachlässigt. Die Familie hat keinen normalen Alltag mehr, da sie ständig räumlich getrennt ist – ein Teil ist im Krankenhaus, der andere Teil zu Hause.

Behinderung: Familien mit behinderten Kindern machen spezifische Veränderungen durch. Bei den Eltern ist oft unbewusst ein Versagensgefühl oder eine narzisstische Kränkung geblieben, viele Lebensbereiche sind durch das behinderte Kind eingeschränkt, die Familie erlebt vielleicht Abwertungen durch die Umwelt. Geschwister müssen auf das behinderte Kind aufpassen. Vielleicht finden Vertuschungen statt und man darf nicht über die Behinderung reden, Geschwister sollen ihre Eltern für die Kränkung durch die Behinderung entschädigen usw. Vielleicht leidet die Sexualität, aus Angst, wieder mit einem behinderten Kind schwanger zu werden. Zwischen den Ehepartnern finden oft unbewusste Schuldzuweisungen statt, wer die falschen Gene weitergegeben hat, in welcher Familie schon Behinderungen vorgekommen sind usw. Oft wird die Familie übermäßig auf das Eltern-Kind-System fixiert, d. h. die Pflege des Kindes nimmt sehr viel Zeit in Anspruch und hört vielleicht nie auf. Die Ablösung des Kindes von den Eltern kommt nicht zustande und wird erschwert. Eltern erleben nicht, dass ihr Kind erwachsen wird und dass sie sich wieder auf sich selbst besinnen können. Vielleicht wird sogar testamentarisch festgelegt, dass Geschwister weiter für das behinderte Kind zu sorgen haben und ansonsten ihr Erbe nicht antreten dürfen.

Scheidung: Die hohe Scheidungsrate ist eines der Hauptprobleme unserer Zeit. Viele Kinder müssen mit der Scheidung oder Trennung ihrer Eltern fertig werden, erleben viele Scheidungsstreitigkeiten mit, die sich oft jahrelang hinziehen. Manche Kinder fühlen sich als Spielball ihrer Eltern, manche als Streitobjekt. Sie wollen es sowohl der Mutter als auch dem Vater recht machen, deren Erwartungen stehen aber in Widerspruch und so müssen sie in verschiedene Rollen schlüpfen. Manche Kinder nutzen dies auch aus, indem sie Mutter und Vater gegeneinander ausspielen. Manche leben bei der Mutter und haben keinen Kontakt zum Vater und haben vielleicht ein sehr negatives Bild vom Elternteil, der weggezogen ist. Die Scheidung ist oft auch mit Ortswechsel, Schulwechsel und Unterbrechung der sonstigen sozialen Bezüge verbunden. Scheidungskinder müssen sich auf neue Partner ihrer Eltern einstellen, fühlen sich dann vielleicht als Stiefkinder oder lehnen selbst die neuen Partner ab. Sie internalisieren vielleicht ein schlechtes Bild der Partnerschaft, d. h. sie setzen Liebe und Partnerschaft mit Streit und Trennung gleich. Nicht selten haben sie dann selbst Schwierigkeiten, dauerhafte Bindungen zu entwickeln.

Fehlende oder problematische Sexualität: Sexuelle Schwierigkeiten zwischen den Partnern sind eine sehr häufige Ursache von familiären Problemen. Sigmund Freud hat zwar bereits vor 100 Jahren die sexuellen Probleme unserer Gesellschaft aufgedeckt und in den 1970er-Jahren versuchte man durch die so genannte sexuelle Befreiung zu mehr Lebensglück zu kommen, nichtsdestotrotz ist Sexualität in vielen Familien nach wie vor ein schwieriges Gebiet. Sexualität ist sehr anfällig gegenüber Störungen. Stress und Konflikte wirken sich negativ aus. Vor allem ist es aber nach wie vor das Thema, über das sehr wenig gesprochen wird. Sexualtabus bewirken immer noch, dass man sich seine Wünsche nicht mitteilen kann. Bei vielen Problemen von Kindern findet sich ein versteckter Sexualkonflikt der Eltern als eigentliche Ursache. Oft ist die Sexualität schon seit Jahren erloschen, weil sich ein Partner verschließt. Dies führt dazu, dass ständig eine latente Spannung in der Familie herrscht, die sich dann über Erziehungskonflikte etc. entlädt. Den Kindern kommt dann oft die Rolle zu, die Ehe der Eltern zu kitten. Damit sind sie aber letztlich überfordert und entwickeln deshalb Krankheiten, die wiederum die Familie stabilisieren sollen. Das Kind wird dann zum Arzt gebracht, anstatt dass die Eltern endlich über ihr eigentliches Problem reden.

Sexueller Missbrauch: Nicht selten werden die Kinder selbst direkt in die Sexualprobleme der Eltern verstrickt. Ausgehend von Amerika wurden auch bei uns immer mehr die großen Dunkelziffern bezüglich Inzest thematisiert. Sexualprobleme von Erwachsenen lassen sich oft auf erlittenen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückführen. Umgekehrt kommt es oft aufgrund von Sexualproblemen zum Inzest. Die Schädigung der Tochter ist dabei eine doppelte: Einerseits wird sie durch den Vater traumatisch verletzt und die psychischen Reaktionen sind dabei teilweise denen ähnlich, die Folteropfer zeigen. Andererseits erlebt sie auch, dass sie von der Mutter nicht geschützt und verteidigt wird. Außerdem wird der Inzest meistens totgeschwiegen und das Kind bleibt mit diesem Trauma allein. Es hat daher oft keine andere Chance, als das Erlebte zu verdrängen und zu vergessen. Oft klappt die Sexualität zwischen den Eltern nicht und der Vater sucht sich bei der Tochter einen Ersatz, da sich seine Frau verweigert. Unbewusst ist es der Mutter oft recht, dass sich der Mann bei der Tochter abreagiert und sie dafür ihre Ruhe hat. Oft sind die Mütter von missbrauchten Mädchen selbst sexuell missbraucht worden und haben deshalb Sexualprobleme.

Sexualität ist eine Hauptwurzel des familiären Zusammenhalts. Ohne Sexualität gibt es keine Kinder und auch keine dauerhafte Bindung zwischen Mann und Frau. Es ist daher nicht verwunderlich, dass familiäre Störungen oft auf sexuelle Störungen zurückgehen. Diese sind umso schwieriger zu ertragen, da aufgrund der sexuellen Aufklärung unsere Gesellschaft auf Sex großes Gewicht legt und sexuelle Potenz zum Leistungsnachweis gehört. Umso schwieriger ist es dann, sich diese Probleme einzugestehen und offen darüber zu reden. Sexualität ist beinahe zum Fetisch geworden und mit vielen Erwartungen überfrachtet, die letztlich dann nicht erfüllt werden.

Gewalt: Gewalttätigkei ist ein Bereich, den wir gern aus unserem Blick verdrängen, der aber doch immer wieder in unser Leben einbricht. Es gibt viele Ehen, in denen ein Partner – meist der Mann – gewalttätig ist, Frau und Kinder schlägt und sogar verletzt. Die Frauenhäuser, die es nunmehr in allen Landeshauptstädten gibt, legen davon Zeugnis ab. Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, lernen, dass es Täter gibt und Opfer, dass es darauf ankommt, wer mächtiger und stärker ist. Diese Kinder identifizieren sich manchmal mit dem Aggressor und fühlen sich dadurch sicher, dass sie selber gewalttätig und stark werden. Oder sie identifizieren sich mit dem Opfer und haben große Ängste, dass ihnen immer wieder neue Gewalt zustoßen könnte. Die große Zahl von aggressiven Verhaltensstörungen in den Schulen ist oft auf die erlebte Gewalttätigkeit in den Familien zurückzuführen.

Forscht man weiter nach, so reichen die Wurzeln der Gewalt oft Generationen zurück und lassen sich geschichtlich auch auf Gewaltereignisse von außen zurückführen – Kriege, Vertreibungen, Diktaturen, Folterungen und Ähnliches. Gewalttaten provozieren oft Gegengewalt, wie in dem Film „Via mala“ anschaulich dargestellt wird: Hier quält der Vater solange seine Frau und seine Kinder, bis diese in ihrer Verzweiflung ihn gemeinsam töten, da sie keinen anderen Ausweg sehen. Man darf nicht vergessen, dass bei uns das Gewaltregime des Hitlerfaschismus erst vor 60 Jahren besiegt wurde und dass damals die Missachtung aller Menschenrechte an der Tagesordnung war. Blickte man im letzten Jahrzehnt nach Jugoslawien, so sah man wieder gewaltsame Vertreibungen, systematische Vergewaltigungen von Frauen, ethnische Säuberungen und Ähnliches mehr. Es ist klar, dass diese Ereignisse viele tausend Familien auf Jahre hinaus prägen werden.

Alkoholismus: Alkoholismus ist in Österreich ein weit verbreitetes Phänomen, das Hunderttausende betrifft. Alkoholismus kann zu Gewaltexzessen, zu finanziellem Abstieg, Verlust des Arbeitsplatzes, zu Demenz und Tod führen. Die Kinder erleben ständige Eskalationen, Verunsicherung, können sich auf nichts verlassen. In der Alkoholiker-Ehe ergibt sich eine typische Polarisierung: ein Partner, nämlich der Alkoholiker, ist schwach, unfähig, unzuverlässig, der andere Partner dominiert und trägt alle Verantwortung. Die Ehe kommt dadurch immer mehr in eine Schieflage, die einer Eltern-Kind-Beziehung mehr ähnelt als einer Partnerschaft. Dies führt dazu, dass der gesunde Ehepartner dem Alkoholiker überhaupt nichts mehr zutraut und dieser sich schließlich immer mehr in seine Schwäche hineinfallen lässt. Für die Kinder ergibt sich dadurch eine starke Polarisierung in Gut und Böse. Es gibt einen starken und zuverlässigen Elternteil und einen anderen Elternteil, der das definierte Problem ist. Alle Familienmitglieder leben in ständiger Angst vor dem nächsten Rausch, der wieder alle in Angst und Schrecken versetzt.

Verlust und Tod: Zum Schluss seien die Familien genannt, die durch den zu frühen Tod eines Elternteils oder auch eines Kindes gekennzeichnet sind. Wenn ein Kind sehr früh seine Mutter oder auch seinen Vater durch Tod verliert, so zählt dies zum Schrecklichsten und Folgenschwersten überhaupt. Dies führt oft zum Zerbrechen der Familie, Kinder werden auf Pflegeplätze oder in Heime gegeben oder wachsen bei Verwandten auf. Umgekehrt kommen auch Eltern nur schwer über den frühen Tod eines Kindes hinweg und die Geschwister wachsen oft in diesem Klima der Traurigkeit und Depression auf. Die Bindungsforschung liefert immer mehr Indizien dafür, dass das Zerbrechen der Familie durch Todesfälle eine der wichtigsten Neurosen-Ursachen darstellt.

Tradierung von traumatisierenden Ereignissen

Wenn wir heute eine Zeitung zur Hand nehmen, so sind wir sehr erleichtert, dass Krieg, Tod und Gewalt jenseits unserer Grenzen stattfinden. Denken wir 60 Jahre zurück, so erinnern wir uns an zerbombte Städte, an Väter, die in Russland starben, an verzweifelte Mütter, an Grausamkeit und Gewalt. Vor 60 Jahren fanden in Österreich jene entsetzlichen Dinge statt, die wir heute in Afghanistan oder im Irak erleben und die Menschen, die damals so viel erleiden mussten, sind heute die Großeltern unserer Problemkinder. Es scheint so zu sein, dass schwere seelische Traumata sich wie Schockwellen über mehrere Generationen fortpflanzen und dass es einige Generationen braucht, bis diese Verletzungen ausheilen können.

Untersuchen wir z. B. schwierige Kinder, so finden wir, dass deren Eltern vom Schicksal geschlagene Kinder waren, die in einer Zeit der Gewalt aufwuchsen, als die Mörder den Ton angaben und sich als Herren der Welt fühlten. Wir sind vielleicht nicht gewohnt, in solchen Zusammenhängen zu denken, aber im Einzelschicksal ergeben sie sich offensichtlich und zwangsläufig. Dazu ein Beispiel:

Eine Mutter berichtet von ihrer sozial auffälligen Tochter und klagt über die große Distanz zwischen beiden, da man mit der Tochter nicht mehr reden könne ohne Streit und Konflikt. Im weiteren Gespräch klagt sie auch über ihre eigene Mutter, die unnahbar, ja gefühlskalt war. „Es war, als hätte sie sich hinter einem eisernen Panzer versteckt, man kam einfach nicht zu ihr durch. Meine ganze Kindheit lang fühlte ich mich einsam und allein, da meine Mutter zwar physisch vorhanden, aber nicht wirklich für mich da war.“ Nachdem die Frau ihre Traurigkeit zugelassen hat, fällt ihr ein, dass ihre Mutter im Krieg sechs Familienangehörige hat sterben sehen und sie versteht, dass ihre Mutter den Schmerz darüber nur mit diesem harten Panzer der Distanziertheit überleben konnte. Sie erkennt, dass der Protest ihrer Tochter ein Versuch ist, diesen Panzer des Schweigens aufzubrechen und zu den wichtigen, wenngleich schmerzhaften Themen vorzustoßen. Sie beginnt, mit ihrer Tochter all dies zu besprechen und ist glücklich, dass diese wieder weich und zugänglich wird.

Entgleisung der Bedürfniserfüllung

Traumatische Ereignisse unterbrechen den Fluss der Bedürfniserfüllung zwischen Eltern und Kindern und wirken dadurch über mehrere Generationen nach. Wer als Kind traumatisiert wurde, schleppt seine unerfüllten Wünsche mit ins Erwachsenenleben. Wenn man eigene Kinder hat, leben diese Frustrationen wieder auf bzw. wir erinnern uns daran. Dann passiert in extremen Fällen, wo die Eltern aufgrund von Verdrängung ihre Motive nicht erkennen können, Folgendes: Der Elternteil versucht, seine Defizite nachträglich vom eigenen Kind erfüllt zu bekommen. Wenn man also von der Mutter selbst nicht geliebt wurde, ist es dann besonders wichtig, sich vom eigenen Kind geliebt zu fühlen. Im Extremfall passiert eine Umkehrung der Eltern-Kind-Beziehung: Plötzlich muss die Tochter die Mutter ihrer Mutter sein, der Sohn wird zum Vater seines Vaters. Eine Mutter, die als Waisenkind keine Liebe erfuhr, verlangt von ihrer Tochter ständig Liebesbeweise und missachtet dabei die Autonomiebestrebungen des Kindes. Ein Vater, der als Stiefsohn abgelehnt wurde, macht später seinen Sohn für seine missglückte Ehe verantwortlich und lehnt den Sohn ebenfalls ab. Ein Vater, der nie vom eigenen Vater anerkannt wurde, möchte nun von seinem Sohn getröstet werden und deshalb soll dieser unbedingt studieren und erfolgreich sein, um den Vater vor der Welt zu rehabilitieren. In der Eltern-Kind-Situation leben also die Erfahrungen der eigenen Kindheit wieder auf. Hatten die Eltern eine unglückliche Kindheit, die sie nicht bewältigen konnten, so geben sie dieses Unglück in irgendeiner Form an ihre Kinder weiter. Schlimm sind vor allem jene Verletzungen, die so arg waren, dass sie verdrängt werden mussten. Dann sind wir uns nämlich nicht bewusst, dass wir unserem Kind schaden, sondern der negative Einfluss tarnt sich als wohlgemeinte Erziehung.

Generationenkonflikte als Ergebnis der Traumatisierung

Betrachten wir mehrere Generationen einer Familie, so ergibt sich ein Grundmuster der Weitergabe von Verletzungen, die dabei immer wieder neue Formen annehmen können:

Die erste Generation, also die Großeltern oder Urgroßeltern, hat meist eine vitale Bedrohung des eigenen Lebens erfahren: etwa durch den frühen Tod der eigenen Mutter, durch ein Waisenkindschicksal oder Ähnliches. Diese Generation muss ihre ganze Kraft dem Überleben widmen und dabei ihre emotionalen Bedürfnisse verdrängen. Ein Waisenkind, das überlebt hat, wird als Elternteil seine ganze Kraft der physischen Versorgung der Kinder widmen. Wenn diese Menschen sich als gute Eltern fühlen, werden sie es etwa so ausdrücken: „Mein Kind, ich habe alles für dich getan, denn du warst immer gut versorgt, hattest genug zu essen, Bekleidung, ein Dach über dem Kopf. Ich war immer für dich da und habe genug Geld für dich verdient.“ Das Kind wird sich aber vielleicht sehr einsam fühlen, weil die Eltern vor lauter Versorgen und Geldverdienen keine Zeit hatten und Gefühle und emotionale Zuwendung als blinder Fleck der Eltern für das Kind zu kurz kamen.

Wenn diese einsamen, gefühlsmäßig allein gelassenen Kinder Eltern werden, schwören sie sich in etwa Folgendes: „Ich werde es besser machen als meine Eltern und meine Kinder lieben. Kinder brauchen vor allem viel Liebe.“ Aber vielleicht tun sie dann des Guten zu viel und ersticken das Kind mit ihrem Anspruch nach ständiger emotionaler Nähe. Und das Kind wird sich vielleicht insgeheim nach Freiheit und Ungebundenheit sehnen.

Wenn diese emotional überbeanspruchten Kinder erwachsen werden, schwören sie sich oft: „Ich werde es besser machen als meine Eltern und meinem Kind genug Spielraum geben.“ Ein Kind muss sich selbstständig entwickeln, ohne von den Eltern am Gängelband gehalten zu werden. Vielleicht tun sie dann aber auch des Guten zu viel und lassen das Kind zu sehr alleine in seinem Verlangen nach Orientierung und lebendiger Auseinandersetzung mit einem Vorbild. Und das Kind wird sich insgeheim denken: „Ihr habt mich immer alleine gelassen mit allen meinen Fragen an das Leben.“

Wenn diese orientierungslosen Kinder Eltern werden, nehmen sie sich oft vor: „Ich werde meinem Kind immer den Weg zeigen, es soll wissen, wo es lang geht und sich sicher sein, dass ich die Antwort weiß, es soll immer bei mir Rat finden können.“>Vielleicht zwingen sie dann aber ihren Kindern zu sehr den eigenen Plan auf, machen aus ihm vielleicht ein „Wunderkind“, das zu sehr in eine Richtung gedrillt wird und keinen Raum hat, eigene Ideen zu entwickeln.

Wir sehen also, dass jedes Trauma der eigenen Kindheit eine Verhärtung in der eigenen Seele hinterlassen kann, die uns dann als Eltern zu rigide einen zu einseitigen Standpunkt einnehmen lässt. Wir sind dann nicht mehr in der Lage, die sich ändernden Bedürfnisse unserer Kinder wahrzunehmen und flexibel darauf zu reagieren, sondern wir interpretieren das Kind einseitig nach den Erlebnissen der eigenen Kindheit. Dies zwingt das Kind in eine oppositionelle Haltung und heizt dadurch Generationenkonflikte an.

Tradierung von Familienmustern

Wir haben bereits die Bedürfnisse des Kindes beschrieben: Struktur – Zuwendung – Autonomie und Orientierung. In vielen Fallbeispielen ließ sich zeigen, dass Bedürfnisse zum Teil im Übermaß erfüllt werden, dass andere Bedürfnisse aber zu kurz kommen. Wenn sich derartige Erfahrungen der Bedürfniserfüllung oder Bedürfnisverweigerung über lange Zeit wiederholen, so werden sie zu einem fixen Muster, nach dem wiederum neue Erfahrungen organisiert werden. Dabei gibt es zwischen den Mustern der Eltern und der Kinder verschiedene Möglichkeiten der Wechselwirkung: Die Reaktion des Kindes auf die Persönlichkeit der Eltern kann drei Kategorien zugeordnet werden: Das Muster des Kindes kann im Verhältnis zu den Eltern sein:

  1. identisch,

  2. komplementär oder

  3. abgewandelt.

Wir können auch sagen, das Kind identifiziert sich mit der These der Eltern, es greift zur Antithese oder es bildet eine Synthese.

Identische Muster

Über die Identifizierung übernimmt das Kind voll und ganz die Muster und Themen eines oder beider Elternteile. Wie der Vater so der Sohn, wie die Mutter so die Tochter. Die identische Musterbildung findet vor allem auch bei positiven Eigenschaften der Eltern statt. Unsere Eltern haben ja in der Regel sehr viele Stärken und gute Eigenschaften, mit denen wir uns identifizieren können. Alles was funktioniert, wird gerne nachgemacht und übernommen. Die Verhaltenstherapie hat nachgewiesen, dass ein Großteil des Lernens der Kinder ein Lernen am Modell ist. Das positive Modell unserer Eltern führt somit dazu, dass wir Fähigkeiten, Errungenschaften und Traditionen unserer Vorfahren relativ mühelos übernehmen können.

Schwierig wird es jedoch bei negativen Eigenschaften, die identifikatorisch übernommen werden. Negative Muster dienen oft dazu, ein traumatisches Erlebnis zu verdrängen und negative Gefühle nicht hochkommen zu lassen. In der Identifikation führt das Kind dann die Verdrängung fort, die schon für die Eltern überlebensnotwendig war. Dies kann dazu führen, dass über mehrere Generationen ein bestimmter Gefühlsbereich ausgeklammert bleibt, dadurch wird der Gefühlsstau jedoch immer größer und das Konfliktpotential muss sich schließlich in einer sehr dramatischen Krise entladen. Der definierte Symptomträger hat es dann vielleicht besonders schwer, da er einem ganzen System von miteinander identifizierten Verdrängern gegenübersteht.

Komplementäre Muster

Bei negativen Mustern ist es wahrscheinlich, dass das Kind ins Gegenteil schlägt. Wenn ich mich an ein bestimmtes Defizit erinnere, so werde ich versuchen, es als Erwachsener anders zu machen. Diese komplementären Reaktionsmuster der Kinder haben wir bereits beschrieben: Waisenkinder, welche keine versorgenden Eltern hatten, betonen die Versorgung. Versorgte, aber einsame Kinder betonen als Eltern Nähe und Symbiose. Symbiotisch eingeengte Kinder betonen als Eltern Autonomie und Freiheit. Freie aber allein gelassene Kinder betonen als Eltern die Vorbildwirkung. Dressierte Kinder betonen als Eltern die Selbstverwirklichung. Durch diese Betonung des unerfüllten Gegenteils kommt es über mehrere Generationen dann doch zu einer gewissen Lösung des Problems, da der Reihe nach alle Grundbedürfnisse durchgegangen werden und jede Generation die Problematik abwandelt.

Komplementäre Reaktionen können aber auch zu einer negativen Fixierung auf die Grundproblematik führen. Dafür ein Beispiel:

  • 1. Generation: Hat ein Übermaß an Struktur und ein Defizit an Zuwendung. Dies war häufig in der Kriegs- und Nachkriegsgeneration der Fall (Großeltern-Generation).

  • 2. Generation: Versucht das Gegenteil und hat deshalb einen Mangel an Struktur und ein Übermaß an Zuwendung (Eltern-Generation). Dies war besonders zur Zeit der antiautoritären Erziehung der Fall, welche historisch eine Reaktion auf die Rigidität des Faschismus darstellte.

  • 3. Generation: Versucht wieder das Gegenteil, ist deshalb überstrukturierend und kann mit Zuwendung wenig anfangen (Enkel-Generation). Dadurch ergibt sich plötzlich eine Parallele zwischen den Enkeln und den Großeltern. Die faschistische Sehnsucht nach autoritären Führern taucht wieder auf. Obwohl jede Generation das Gegenteil ausprobiert, geht die Problematik tatsächlich im Kreis. Wie in der Fotografie wird das Positiv zu einem Negativ, aus dem Negativ wird wieder ein Positiv. Negativ und Positiv sind zwar scheinbar verschieden, sind aber letztlich das gleiche Bild. Je traumatischer sich ein negatives Bild in die Seele einprägt, desto mehr Generationen bleiben diesem negativen Bild verhaftet, obwohl sie ständig dagegen protestieren. Dies ist vielleicht der Grund dafür, dass wir auch durch den Protest gegen unsere Eltern nicht wirklich von deren Problemen loskommen können.

Abgewandelte Muster

Natürlich sind die Tradierungsmuster keineswegs so eindimensional wie in obigen Beispielen. Allein dadurch, dass das Kind zwischen dem Vorbild der Mutter und dem Vorbild des Vaters unterscheiden kann, hat es die Möglichkeit, die Muster der Eltern verschieden zu mischen und zu gewichten. Jedes Kind in der Geschwisterreihe trifft dabei andere Entscheidungen und sucht sich aus den Mustern seiner Vorfahren jeweils andere heraus. Das Kind hat dabei die Möglichkeit, Erfahrungsmuster neu zu mischen, verschiedene Erfahrungen zu kombinieren und es wird dabei zu neuen Lösungsansätzen kommen. Dadurch wird eine Grundproblematik quasi abgewandelt und in verschiedenen Variationen durchgespielt. Je mehr Flexibilität und Kreativität ein Familiensystem dadurch entwickelt, desto schneller können Defizite abgebaut und Traumata verarbeitet werden. Schon bei den komplementären Reaktionen haben wir gesehen, dass die Kinder auf eine andere Bedürfnisebene wechseln und sich somit der Problemcharakter über verschiedene Generationen hinweg verwandelt.

Evolutionäre Familiensysteme

Tatsächlich ist die Tradierung von Persönlichkeitsmustern so komplex, da es eine Unzahl von Thematiken, eine Vielzahl von Mitspielern und viele aufeinander folgende Generationen gibt. Die Persönlichkeitsbildung erfolgt somit in einem evolutionären Familiensystem, welches bestimmte Grundmuster immer wieder neu abwandelt, verändert und dadurch neue Muster aufbaut. Dabei ist ein gesundes Familiensystem durch große Flexibilität und kreative Musterproduktion gekennzeichnet. Ein geschädigtes, durch Schicksalsschläge traumatisiertes Familiensystem neigt jedoch dazu, an einer bestimmten Thematik kleben zu bleiben. Speziell bei kranken Familiensystemen ergibt sich dann eine scheinbar eindimensionale Überlieferung von negativen Strukturen. Man könnte daher auch sagen, dass Krankheiten den Vorteil haben, eine bestimmte Thematik besonders drastisch herauszustreichen und sichtbar zu machen. Bei rigider und eindimensionaler Mustertradierung scheint es so zu sein, dass ein Familiensystem sich über mehrere Generationen hinweg mit einer bestimmten Thematik besonders intensiv auseinander setzen muss. Nicht selten sieht sich dieses Familiensystem hier einer besonders großen Herausforderung gegenübergestellt. Man könnte also postulieren, dass Familien in Not vor der Herausforderung stehen, völlig neue Muster zu entwickelt, für die es keine bekannten Vorbilder gibt.

Literatur

Crotti, Evi; Alberto Magni: Die geheime Sprache der Kinder. Kinderzeichnungen richtig deuten. Beust 1999.

Kohnstamm, Rita: Praktische Kinderpsychologie. Bern 1990.

Kris, Ernst: Psychoanalytische Kinderpsychologie. 1979.

Krucker, Wolfgang: Diagnose und Therapie in der klinischen Kinderpsychologie. Ein Handbuch für die Praxis. Stuttgart 2000.

Lauth, Gerhard W.: Rastlose Kinder, ratlose Eltern. Hilfen bei Überaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen. Dtv 2001.

Mussen, Paul H. e. a.: Lehrbuch der Kinderpsychologie. Band 1 und 2. Stuttgart 1999.

Niebergall, Gerhard e. a.: Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine praktische Einführung. Tieme 2000.

Opelt, Rüdiger: Familienstrukturen, Elternpersönlichkeit, Eltern-Kind-Beziehung. 2. überarb. Auflage. Salzburg 1999.

Opelt, Rüdiger: Die Kinder des Tantalus. 2. Auflage. Wien 2003.

Petermann, Franz: Ratgeber aggressives Verhalten. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe 2001.

Petermann, Franz: Fallbuch der klinischen Kinderpsychologie. Erklärungsansätze und Interventionsverfahren. Göttingen 1997.

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