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Kindheit in Salzburg (Fred Friedman)

Dr. Fred Friedman wurde als Kind in Salzburg plötzlich mit der Realität des NS-Regimes konfrontiert: Ausgrenzung, Verfolgung und Flucht. Als alter Mann stellte sich der Emigrant für ein Interview und eine Projektarbeit von SchülerInnen zur Verfügung.

Die folgende Darstellung erarbeitete eine Projektgruppe des „Bundesgymnasium und Bundesoberstufengymnasium (BG und BORG)“ in St. Johann im Pongau über Interviews mit Dr. Fred Friedman. Den nachstehenden Bericht, der die Betroffenheit der Jugendlichen sehr schön spiegelt, verfassten Maximilian Stangl, Aljoscha Alquati, Markus Pirker, Markus Teufl, unterstützt von den SchülerInnen der 4 A Klasse auf Initiative und Anleitung von Frau Professorin Annemarie Zierlinger. Auf Einladung der Schülerinnen und Schüler dieser Klasse kam Dr. Fred Friedman mit seiner Frau Fay Friedman vom Bundesstaat New York nach St. Johann im Pongau. In der Zeit vom 12. bis zum 18. Mai 2004 führte Herr Friedman viele Gespräche mit Jugendlichen und Erwachsenen. Ermöglicht wurde dieses Projekt durch die finanzielle Unterstützung seitens der Stadtgemeinde St. Johann im Pongau und des „Vereins Kultur und Schule“ vom Land Salzburg.

SchülerInnen auf der Suche nach Zeitgeschichte

Alle SchülerInnen der 4 A Klasse (Schuljahr 2003/04) haben sich im Geschichteunterricht entschlossen, am Projekt „A Letter To The Stars II“ teilzunehmen. Wir suchten aus der Liste der Überlebenden und Nachgeborenen Dr. Fred Friedman als Kontaktperson aus, weil er ein gebürtiger Salzburger ist. Die persönliche Begegnung – zunächst im Kaffeehaus und dann in unserer Klasse – hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Der jüdische Bub Alfred und seine Familie konnten nur überleben, weil sie immer wieder Helfer hatten, die sie auf ihrer Flucht unterstützten.

1923 übersiedelten seine [Anm.: Fred Friedmans] Eltern Otto und Hildegard Friedman von Wien nach Salzburg, in die Haunspergstraße 25, wo sie ein Wohnhaus kauften. Sein Vater war als Holzhändler tätig. Am 5. Oktober 1926 wurde Alfred Friedman geboren, vier Jahre später kam seine Schwester Grete auf die Welt. „Ich hatte eine glückliche Kindheit, gerne erinnere ich mich an die Ausflüge in das Salzbergwerk Hallein, auf den Mönchsberg und Gaisberg, in das Salzkammergut, an das Schifahren in Badgastein und an das Eislaufen. Auch die Schulausflüge haben mir gefallen.“ In der Volksschule war er das einzige jüdische Kind in der Klasse, er hatte nicht-jüdische Freunde aus der Klasse und der Nachbarschaft, mit denen er zusammen spielte. Später ging er dann in die Realschule [Anm.: das damalige Realgymnasium].

Da die Familie nicht gläubig war, spielte das jüdische Leben nur an den Feiertagen eine Rolle.

Als Kind spürte er vor 1937 keinen Antisemitismus, ab 1937 fing es an – die erste negative Erfahrung hatte er mit einem Lehrer der Realschule. Der Lehrerbund war sehr antisemitisch.

Die Eltern sprachen vor dem Einmarsch Hitlers [Anm.: Annektierung Österreichs am 12. März 1938] nicht mit den Kindern über die Gefahren – sein Vater glaubte nicht an eine Bedrohung, er war Österreicher, Soldat im Ersten Weltkrieg und fühlte sich sicher.

1938

Im März 1938 marschierten die deutschen Truppen in Salzburg ein, von seinem Fenster aus konnte Alfred die Lastwagen, Panzer und Flugzeuge sehen. [Anm: die von der deutschen Grenze über die Lehener Brücke in die Stadt fuhren bzw. flogen]. An allen Gebäuden hingen die Fahnen mit den Hakenkreuzen. Offiziere der Wehrmacht liehen sich den Mercedes seines Vaters aus und brachten ihn jedoch ein paar Tage später wieder zurück.

Seine Eltern hatten einen Freund in der Schweiz, Albert Falk, der sie schließlich gerettet hat. Dieser erkannte die Gefahr und sagte: „Ihr müsst weg, ihr müsst weg!“

Alfreds Vater wurde eingesperrt, Albert Falk brachte ihn heraus und besorgte ihm ein Visum für eine Geschäftsreise nach Italien, in die Schweiz und nach Frankreich, um dort Geld von seinen Kunden einzukassieren. Im Mai verließ der Vater Österreich und kam nicht mehr zurück.

Wegen der Nürnberger Rassengesetze wurde Alfred aus der Realschule geschmissen. Auch die ehemaligen Mitschüler wandten sich gegen ihn. Er und sein jüdischer Freund wurden mit Steinen beworfen, seine ehemaligen Mitschüler kannten ihn außerhalb der Schule nicht mehr.

Die Nonnen [Anm.: Benediktinerinnenstift Nonnberg] im Nonntal hatten eine kleine Schule für Mädchen und nahmen seine Schwester und die Tochter des Rabbiners gegen das Gesetz [Anm.: des NS-Staates, die jüdische Bevölkerung betreffend] auf, was für die Nonnen sehr gefährlich war. Auch die Mitschülerinnen waren zu seiner Schwester sehr nett.

Im Herbst besuchten Alfred, seine Mutter und seine Schwester die Großmütter in Wien – er wusste nicht, dass es ein Abschiedsbesuch war. Seine Eltern sprachen nie über die Großmütter. Viel später fuhr Fred Friedman nach Wien zum alten Rathaus und fand in den Gestapo-Akten heraus, was aus den Großmüttern geworden ist. Die Mutter seiner Mutter starb 1944 in Wien. Die Mutter seines Vaters wurde nach Theresienstadt deportiert und dort getötet.

Die „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November [Anm.: 1938: Zerstörung jüdischer Synagogen und Besitzungen, Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung] hat Alfred nicht so wahrgenommen, da er außerhalb der Innenstadt wohnte. Ihnen selbst passierte nichts. In anderen Stadtteilen wurden Geschäfte zerstört, Auslagen geplündert, jüdische Männer verhaftet und die Synagoge verwüstet.

Flucht

„Eines Tages sagte meine Mutter: Du musst deinen kleinen Koffer einpacken, du gehst auf eine lange Reise und wirst in die Schweiz kommen und deinen Vater dort treffen. Aber du darfst mit niemandem im Zug sprechen.“ Ende November 1938 fuhren Alfred, seine Schwester und seine Mutter mit dem Zug nach Freiburg.

Dort übernachteten sie bei einem Universitätsprofessor, der vielen Flüchtlingen geholfen hatte. Sein Sohn war im selben Alter wie Alfred und war bei der HJ [Anm.: „Hitler-Jugend“]. Beim Abschied sagte er: „Einmal können wir Freunde sein.“ Herr Friedman weiß bis heute nicht, was mit ihm und seinem Vater passierte. Die Kinder wurden dann einer Frau aus Basel übergeben. Sie hatte einen gefälschten Pass, in dem Alfred und seine Schwester als ihre eigenen Kinder eingetragen waren. Das alles hatte Herr Falk arrangiert. Die Mutter verabschiedete sich, die Kinder fuhren mit der Schweizer Frau zum Rhein, stiegen aus dem Auto und versuchten auf einer Brücke den Rhein zu überqueren. Ein Wehrmachtssoldat kam ihnen entgegen, nahm den Pass und fragte: „Wer sind diese Kinder?“ Die Frau antwortete: „Das sind meine Kinder.“ Der Soldat sagte darauf: „Das stimmt nicht, ich kenne die zwei, das sind die Friedmans aus Salzburg, das sind Juden. Ich war früher in Salzburg.“ Und dann die entscheidenden Worte: „Ihr könnt dort hinübergehen.“ Das war ein großes Risiko für ihn, denn wenn er erwischt worden wäre, wäre er sofort getötet worden. Alfred und seine Schwester wären ins Konzentrationslager geschickt worden. Herr Friedman konnte diesen Mann nie finden. „Er war mein Held des Zweiten Weltkrieges.“

Von dort kamen sie in die Schweiz zu ihrem Vater, den sie in Basel trafen.

Die Schweizer Regierung war zu den jüdischen Flüchtlingen sehr unfreundlich. Sie ersuchte die Reichsbehörde, ein „J“ in die Pässe der Juden zu stempeln, damit sie an der Grenze zurückgeschickt werden konnten. Die Flüchtlinge mussten immer von einem Kanton zum anderen wechseln. Ein Polizeikommissar rief Alfreds Vater in sein Büro und stellte ihn zur Rede, weil er gegen seinen Befehl die Kinder in die Schweiz bringen ließ. Alfreds Vater sagte darauf, dass er einen höheren Befehl befolge, denn „als Vater muss ich meine Kinder beschützen.“ In Basel ging Alfred in die Schule und erlebte sehr viel Ablehnung, Ausländerhass und Religionshass. Kurze Zeit später fuhren sie nach Graubünden, und Alfred besuchte dort eine kleine einklassige Schule. Die Kinder, meistens Bauernkinder, waren ganz anders, Alfred fühlte sich bei ihnen wohl.

Alfreds Mutter lebte allein in der Wohnung in Salzburg. Mehrmals erhielt sie Anrufe von der SS und der Gestapo, aus der Wohnung wegzuziehen. Dann schrieb der Leiter der Polizei einen Brief: Sie müssen sofort die Wohnung verlassen, sonst wird etwas passieren. Frau Friedman zog zu Frau Fürst[5090], einer jüdischen Freundin in der Linzer Gasse. Später erfuhr Herr Friedman, dass der Briefschreiber Otto Begus für die Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß (1892–1934, Bundeskanzler 1932–1934, ermordet beim Juliputsch der Nationalsozialisten) verantwortlich war. Er [Anm.: Begus] übernahm ihre Wohnung in der Haunspergstraße.

Nun half wieder Albert Falk. Durch Kontakte in Vorarlberg und St. Gallen arrangierte er, Frau Friedman über die Grenze in die Schweiz bringen zu lassen. Der St. Gallener Polizeikommandant Paul Grüninger nahm trotz schweizerischer Grenzsperre hunderte Juden auf, auch Alfreds Mutter wurde durch ihn gerettet. Aber schon 1939 wurde Paul Grüninger von der St. Gallener Regierung fristlos entlassen und wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung verurteilt. Er wurde vergessen und lebte bis zu seinem Tod in Armut. Erst in den 1990er-Jahren wurde Paul Grüninger politisch und juristisch rehabilitiert. Alfreds Mutter und andere Menschen aus New York setzten sich dafür ein, etwas für Paul Grüninger zu tun. Alfred und seine Schwester haben auch Kontakt mit der Tochter von Paul Grüninger aufgenommen.

Nachdem Alfreds Vater ein Visum für Frankreich erhalten hatte, verließ die vereinte Familie die Schweiz. Zuerst zogen sie nach Mühlhausen im Elsass, kurze Zeit später in die östliche Stadt Besançon [Anm.: Hauptstadt des französischen Départements Doubs]. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges – im September 1939 – wurden in Frankreich alle Männer über 18, die aus Deutschland oder Österreich kamen, als Feinde eingesperrt. Hier wurde kein Unterschied zwischen Nazi und Jude gemacht. Alfreds Vater wurde in den Pyrenäen [Anm.: Faltengebirge von der Biscaya (Atlantischer Ozean) bis zum Golfe du Lion (Mittelmeer), 435 km lang. Grenze zwischen Spanien und Frankreich. Wichtiger Transit für Flüchtlinge, der auch von der SS überwacht wurde.] an der spanischen Grenze einige Monate gefangen gehalten. Erst durch Herumfragen konnte die Mutter seinen Aufenthalt ausfindig machen und dann warme Kleidung und Essen schicken.

1940 wurde Frankreich im nördlichen Teil von deutschen Truppen besetzt, im südlichen Teil setzte General Pétain in Vichy [Anm.: siehe das nachfolgende Glossar] eine faschistische und nazifreundliche Regierung ein, die auch mithalf, Juden dem Deutschen Reich auszuliefern.

Da die Mutter und die Kinder nicht viel zu essen hatten, fuhr Alfred mit dem Fahrrad zu den Bauern, um Gemüse, Käse und Kartoffeln zu kaufen. Einmal, als er mit einem gefüllten Korb zurück radelte, wurde er von deutschen Offizieren gestoppt und gefragt: „Wer bist du? Wo fährst du hin?“ Alfred antwortete sehr sorgfältig auf Französisch, dass er sie nicht verstehe, weil er nicht Deutsch sprechen kann. Das war ein geistesgegenwärtiger Akt, und sie ließen ihn weiterradeln.

Endlich kam der Vater nach Hause. Schließlich wurde doch ein Unterschied zwischen einem jüdischen und nationalsozialistischen Häftling gemacht. Herr Friedman erhielt vom Amerikanischen Konsulat in Marseille ein Visum für die Einreise in die USA und ein Visum für die Reise durch Spanien und Portugal. Auf der Durchreise kamen sie nach Madrid, wo sie die furchtbaren Zerstörungen durch den Spanischen Bürgerkrieg sahen. In Lissabon konnten sie nicht zusammen auf einem Schiff die Überfahrt antreten. In der ersten Woche fuhr Alfred mit seinem Vater weg, in der darauf folgenden die Mutter mit der Schwester. Es waren die zwei letzten Schiffe, die nach Amerika kamen. Jeder Platz im Schiff wurde für Flüchtlinge verwendet. Auf der Fahrt hatten sie Angst wegen der deutschen U-Boote. Schließlich kamen sie 1941 in New Jersey an und wurden von Verwandten abgeholt. Alfred war enorm von den Wolkenkratzern New Yorks beeindruckt.

USA

Nachdem auch die Mutter mit der Schwester eingetroffen war, fuhren sie gemeinsam zu ihren Verwandten in die Berge, die für sie ein kleines Haus mieteten. Dort besuchte Alfred die Schule. Es gab keine Aufgaben und es wurde so viel in der Klasse gespielt, dass Alfred glaubte, es wäre etwas zwischen Ferien und Schule. Die Mitschüler waren sehr freundlich und Alfred hatte gute Noten. Sein liebstes Fach war amerikanische Geschichte, im dritten Jahr war er die Nummer eins.

Aber in den USA gab es viel Fremdenfeindlichkeit, die Alfred in den ersten Jahren persönlich zu spüren bekam. „Wir mussten unser Radio in die Werkstatt bringen, damit man keine ausländischen Sender empfangen konnte. Man konnte nicht deutsch auf der Straße sprechen. Es gab eine schreckliche Deutschfeindlichkeit. Das war verrückt.“ In den Medien wurde sehr wenig über den Kriegszustand in Europa berichtet. Über die Vernichtungslager erfuhr Herr Friedman erst etwas gegen Ende des Krieges.

Im Februar 1945 kam Alfred zum Militär. Im ersten Urlaub kehrte er sehr stolz in seiner neuen Uniform nach Hause zurück und ging mit seinen Eltern in ein Restaurant. Sein Vater hatte noch Schwierigkeiten mit der englischen Sprache, daher flüsterten sie in Deutsch. Am nächsten Tisch drehte sich eine Frau um und erklärte sehr laut, man solle alle Ausländer zurückschicken. „Daraufhin drehte ich mich um und sagte ebenso sehr laut: Und ich bin gut genug, für Sie zu sterben.“

In der Armee bat Alfred mehrmals darum, nach Europa geschickt zu werden, um bei der Befreiung von Deutschland und Österreich mitzuhelfen. Leider hatte der Hauptmann dafür überhaupt kein Verständnis. Zuerst war Alfred Infanterist, später arbeitete er im Lazarett. Es herrschte strikte Rassentrennung, sie waren absolut getrennt – in weiße und schwarze Soldaten. Nach dem Militärdienst erhielt Alfred am 12. April 1945 als Fred Friedman die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Die meisten Leute waren nach dem Krieg an der Vergangenheit überhaupt nicht interessiert, seine Eltern sprachen auch nicht darüber. Mit den Recherchen über seine Großmütter in den 1980er-Jahren setzte seine eigene Auseinandersetzung damit ein.

Der Verlust seiner Salzburger Heimat tat weh, aber Fred Friedman studierte, wurde Anwalt, gründete eine eigene Familie und blieb daher in den USA.

Zum ersten Mal kam Herr Friedman in den 1960er-Jahren nach Salzburg, er suchte in der Stadt die Plätze seiner Kindheit auf und erkannte viele Gebäude wieder. Fred Friedman kehrt nun immer sehr gerne nach Salzburg und Österreich zurück, er möchte die Lücke seiner Kindheit füllen.

Die Friedman-Wohnung in der Haunspergstraße hatte während der Zeit des Nationalsozialismus Otto Begus übernommen. Dieser verschwand 1945, in die Wohnung zog dann die tschechische Schauspielerin Lida Baarova, die von 1934 bis 1938 die Geliebte des Propagandaministers Paul Joseph Goebbels [Anm.: siehe das nachfolgende Glossar] war und bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 dort lebte.

Wegen jenes Soldaten am Rhein, der ihm geholfen hatte, hat Herr Friedman immer unterschieden zwischen Nationalsozialisten und den anderen Deutschen und Österreichern, denn ohne sie hätte er nicht überlebt.

Das Interview

Das folgende Interview mit Dr. Fred Friedman, wurde von Frau Professorin Annemarie Zierlinger, Professorin am Bundesgymnasium und Bundesoberstufenrealgymnasium St. Johann/Pg. am 14. Mai 2004, in St. Johann im Pongau geführt und von O. P. Zier, Schriftsteller, begleitet. Der Text des Interviews wurde von den Herausgeberinnen insoweit verändert, als starke Amerikanismen, Wiederholungen und Stockungen im Redefluss aufgelöst wurden. Teilweise wurden die sprachlichen Hilfen von Frau Zierlinger in die Transkription übernommen, teilweise gelöscht, wenn der Interviewte Dr. Friedman diese Hilfe im Gespräch aufnahm. Inhalt und Umfang des Interviews wurden nicht verändert.

So Fred, als Erstes würde ich dich bitten, über deine Kindheit in Salzburg zu erzählen.

Ja, 1926 bin ich in Salzburg geboren und hab dorten bis 38 gelebt. Meine Kindheit war normal, ich bin in die Volksschule und Realschule gegangen und hatte Freunde in der Schule und Nachbarn, und kann mich aber erinnern, wir hatten sehr viel Sport. Waren dann in den Bergen. Das hat in meinem dritten/vierten Jahr angefangen – immer größere Berge.

Und in welcher Volksschule warst du?

An der Plainstraße – jetzt ist es eine Hauptschule.

Und dann hast du ein Jahr Realgymnasium besucht? Ein oder zwei Jahre?

Volksschule von 32 bis 36 [Zierlinger: bis 36, 4 Jahre], 1 ½ [eineinhalb Jahre: Zierlinger] Realschule. Und damals war die Realschule noch an der Salzach – bei der Fußbrücke.

Aber deine Eltern sind von Wien nach Salzburg?

Die sind beide gebürtige Wiener, die wurden in Wien verheiratet – in 1922 –, und 23 sind sie übersiedelt nach Salzburg, und dann haben sie ein Wohnhaus gekauft – in der Haunspergstraße.

Und du hast eine jüngere Schwester – eine um vier Jahre jüngere Schwester?

Ja, Grete, auch in Salzburg geboren, und die war in der Volksschule.

Und du hast erzählt, in der Schule hattest du auch nicht-jüdische Kinder als Freunde, und auch nicht-jüdische Nachbarn waren mit euch befreundet.

Ja, ja.

Da hast du in der Schule – Anfang der 30er-Jahre – keinen Antisemitismus verspürt?

Nein. Nicht bis 37. Dann hab ich es zuerst von den Lehrern gefühlt. Von den Schülern später – nach dem Anschluss.

Und kannst du etwas noch aus der Schule erzählen, wie du auch das Judentum in Salzburg erlebt hast? Deine Eltern waren ja nicht sehr religiös, aber Mitglieder der jüdischen Gemeinde.

Mitglieder der jüdischen Gemeinde: Friedman. Und wir sind nur paar Mal im Jahr zur Synagoge gegangen – hohe Feiertage – und zu allen Kinderfesten wie Purim und Chanukka, da haben wir uns getroffen.

Da wurde das mitgefeiert?

Ja.

Und du hast dann außerhalb der Schule auch Religionsunterricht gehabt?

Ja. Wir alle Kinder hatten Religionsunterricht während der Schulwoche, und mein Unterricht war in einem Gebäude – in der Nähe von der Realschule – mit einem Rabbiner, ein oder zwei Mal in der Woche.

Und da kamen alle Kinder – jüdische Kinder – von Salzburg zusammen?

Ja, waren nicht viele.

Waren nicht viele, kannst dich erinnern an die Zahl – ungefähr?

Nein.

Aber nicht viele?

Ja.

Gut, und jetzt kommt das Jahr 1938, das ist ein Bruch jetzt in deiner [stimmt, ja: Friedman] Entwicklung. Kannst du darüber jetzt schildern, was jetzt 38 alles anders geworden ist?

Man hat viel gesprochen über die Reise von Schuschnigg nach München, und manche Leute hatten Hoffnung, dass Österreich noch Österreich bleibt, und Österreich damals hatte einen Verteidigungspakt mit Italien, aber in den letzten paar Tagen vor dem Anschluss hat Mussolini den Vertrag aufgelöst und Hitler unterstützt. Und dann im März 38 sind die Deutschen reingekommen, und ich kann mich noch erinnern, ich hab gefühlt, dass alle meine Heimat nicht mehr unterstützen wollten, keine der großen Mächte wie Frankreich, England oder USA.

Eure Wohnung lag in der Nähe der Lehener Brücke?

Stimmt, ja, und von meinem Fenster konnte ich die Straße von Deutschland sehen, und da konnte ich sehen die vielen Kraftwagen und Panzer [die über die Brücke dann in die Stadt kamen: Zierlinger] gekommen und viele Flieger.

Und deine Eltern, haben die schon vor 38 so diese Gefahren gespürt, oder haben sie gemeint, irgendwie wird das wieder zu Ende sein?

Ja, die haben nicht viel über das mit mir gesprochen, aber später hab ich gelernt, dass verschiedene Leute meinen Vater gewarnt haben, und er hat einen sehr guten Freund und Geschäftskollegen, Albert Falk in Basel, gehabt, der war vielmals bei uns, und wir nannten ihn Onkel Albert. Und der wollte meinen Vater überzeugen, Österreich zu verlassen, und während unserer Flucht – er war der Mann, der uns immer geholfen hat und bei uns stand.

Auf Herrn Falk kommen wir dann später noch zu sprechen. Jetzt, im März – also am 12. März war der Einmarsch der Nazi-Truppen, Österreich war beendet, hieß dann Ostmark. Wie ging es jetzt für euch – für eure Familie – in Salzburg weiter?

Am Anfang haben wir nicht viel bemerkt, nur die Hakenkreuze auf allen Gebäuden, und auch auf unserem Gebäude haben die Nachbarn Hakenkreuze aufgehängt. Und einige Tage später kamen ein paar deutsche Offiziere – sie brauchten den Wagen von meinem Vater, und die sagten, wir werden ihn in ein paar Tagen zurückbringen, und sie haben ihn tatsächlich zurückgebracht.

Dein Vater war ja Holzhändler.

Ja, stimmt.

Und er war geschäftlich viel unterwegs?

Ja. Er hatte ein Sägewerk in Oberösterreich und auch eine Holzhandlung in Salzburg, das Büro war in unserem Haus im ersten Stock, und wir lebten im zweiten Stock – Hälfte des zweiten Stocks –, und er ist sehr viel rumgereist – Italien, Schweiz, Frankreich –, und dann wurde er verhaftet.

Er wurde von Salzburg aus verhaftet?

Ja. Ich weiß nicht wohin, aber paar Wochen später wurde er wieder freigelassen, und dann bekam er ein Visum, um ins Ausland zu reisen und das Geld zu sammeln für das Holz, das er verkauft hat. Und er ist rumgereist und hat das Geld gesammelt [Anm.: die Erlöse kassiert], aber er und das Geld sind nie wieder nach Österreich zurückgekommen.

Aber ihr standet im Kontakt zu ihm?

Ja.

Ihr wusstet, warum er das auch getan hat?

Ja, ich wusste nicht, aber die Mutter wusste das.

Wie ging’s jetzt 38 in der Schule weiter, und wie hast du 38 den Antisemitismus zu spüren bekommen?

In der Schule – cirka Mai 38 – unter den neuen Nürnberger Gesetzen durften Juden nicht in die Schule gehen, und ich wurde sofort, sofort rausgeschmissen von der Realschule und meine Schwester von der Volksschule. Dann die Nonnen im Nonntal hatten eine katholische Schule für Mädchen, und die haben meine Schwester und die Tochter des Rabbiners eingeladen und gegen das Gesetz – das war eine Gefahr für die Nonnen –, und die waren sehr freundlich zu den zwei jüdischen Mädchen, und die anderen Mädchen waren auch freundlich zu den Kindern. Die hatten sich sehr wohl gefühlt dorten.

Aber deine Situation war etwas anders. Du warst weg von der Schule, und deine ehemaligen Schulkameraden wollten wahrscheinlich von dir auch nichts mehr wissen?

Die erkannten mich nicht mehr, das war ein komisches Gefühl.

Und kannst du auch hier ein Erlebnis schildern?

Ja, einmal bin ich aus der Schule rausgekommen mit einem älteren jüdischen Buben – zwei oder drei Jahre älter –, und als wir über die Brücke bei der Realschule gingen, sind Buben hinter uns gelaufen von der Schule und haben Steine auf uns geworfen, und der ältere Bub hat mich beim Arm genommen und sagte: Jetzt sollen wir weglaufen! Und wir sind sehr gelaufen und von ihnen – den Kindern – weggekommen. Und dann sagte er zu mir: Ich werd zurückkommen und Bomben hier werfen! Das war nicht eine – ich glaub, das war nicht eine gute Idee, ich wollte meine Stadt nicht zerstört sehen. Und er ist wirklich nach England gekommen und der RAF [Anm.: Royal Air Force, amtlicher Name der 1918 entstandenen britischen Luftwaffe] beigetreten, aber ich hab nichts von ihm mehr gehört [das ist die englische Luftwaffe: Zierlinger] englische Luftwaffe, stimmt.

So, jetzt gehen wir mit der Lebensgeschichte etwas weiter. Der Vater ist jetzt in der Schweiz, in Salzburg verändern sich sehr rasch auch die Verhältnisse. Ihr habt ja dann noch einmal einen Besuch gemacht in Wien?

Stimmt, im Herbst. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber im Herbst hat unsere Mutter meine Schwester und mich nach Wien gebracht. Und sie hat es uns nicht gesagt, aber sie hatte die Absicht, dass wir uns von den beiden Omas verabschieden, und das war wirklich das letzte Mal, dass ich die beiden gesehen hab und mit ihnen gesprochen hab. Und dann hab ich nach 38 nichts von den Omas gehört, und die Eltern wollten nie über ihre Mütter sprechen. Die beiden Opas waren viel früher gestorben – vor meiner Geburt. Und ich hab immer an meine Omas gedacht, aber ich konnte meine Eltern nicht fragen, die wollten nicht sprechen. So vor ein paar Jahren war ich in Wien und bin zum alten Rathaus gegangen – jemand hat mir gesagt, dort kann man die Gestapo-Akten anschauen, und ich hab die Akten gesucht. Es waren viele liebe Leute dort und haben mir geholfen, und ich fand die Mutter meiner Mutter, Anna Wiedig, sie ist in Wien in 44 gestorben und wurde in Wien begraben. Und – ich kann mich nicht an den genauen Tag erinnern – die Mutter von meinem Vater wurde von den Nazis festgenommen und nach Theresienstadt geschickt, und dort wurde sie getötet.

Und du hast auch genau die Nummern des Waggons und alles ...

Nummer des Waggons und die Daten [die genauen Daten: Zierlinger], welche Leute waren im Waggon, wann sie abgefahren sind von Wien, wann in Theresienstadt angekommen und an welchem Tag sie getötet wurden.

Das hast du alles erfahren – in den Akten?

Ja. Und dann hab ich auch meine Familie durch diese Akten gesucht und für meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester und mich, die sind alle verschwunden – die Nazis wussten nicht, was uns passiert war. Wir sind nicht richtig ausgewandert – nur geflohen.

Und eure Namen waren auch aufgelistet und da stand einfach „verschwunden“ dabei?

Ja, „verschwunden“. Und dann hab ich auch angeschaut, was für Vermögen die Nazis von meinen Eltern genommen haben, und darin steht, dass sie das Geschäft – das Holzgeschäft – meines Vaters beschlagnahmten.

Und das konntest du auch alles nachlesen – in den Akten?

Ja, und auch ein großes Stück Land vor dem Haus, der Garten – der Garten wurde von meinem Vater benützt als ein Holzlager und auch einen gewöhnlichen Garten, und das war sehr gut zum Spielen, und jetzt sind ein paar Häuser dorten gebaut worden.

Ach, so groß war der Garten?

Ja, ein Kinderheim. Und das können wir nicht zurückkriegen. Nur eine symbolische kleine Summe wurde später dafür bezahlt.

So, jetzt kehren wir dann wieder zurück nach Salzburg. Im November fand die so genannte Reichskristallnacht statt. Wie hast du dieses Ereignis wahrgenommen?

Uns ist nichts passiert, nichts wurde in unserem Haus gemacht, und cirka 12 jüdische Geschäfte wurden zerstört, und viele antisemitische Schreiben [Anm.: schmähende Parolen] auf das Geschäft und die Mauern geschrieben.

Aber euch persönlich ist nichts geschehen?

Nein.

Und jetzt nach der Reichskristallnacht, wie geht jetzt dein Leben weiter?

Ja. Eines Tages hat meine Mutter mir gesagt: Heute Nacht werden wir wegfahren. Wir werden durch Deutschland reisen, und dann jemand wird dir helfen, in die Schweiz zu kommen. Ich und meine Schwester haben einen kleinen Koffer gepackt, den wir getragen, und die Mutter hat uns gesagt an der Bahn: ‚Sprich mit niemand’. Sie hat der Schwester nicht gesagt, wo wir hingehen, sie sagt nur: ‚Auf Ferien’. Und wir müssen gar nicht sprechen [um nicht aufzufallen: Zierlinger] und sehr leise sein und meistens schlafen – es war Nacht. Und man macht, als ob man schläft. Und damals haben wir Züge gewechselt in München und noch einer anderen Stadt.

Und ihr seid dann nach Freiburg gefahren. Und wie ging es jetzt weiter?

Ja. In Freiburg wurden wir zu einem Haus gebracht, eines Universitätsprofessoren – ich weiß den Namen nicht –, und der hat cirka 100 Juden geholfen aus dem Reich [aus Deutschland: Zierlinger] rauszukommen. Und der hatte auch einen Sohn, der Sohn war dasselbe Alter als ich, und der Sohn war in der HJ, aber der Vater hat mir gesagt: ‚Du kannst mit ihm sprechen, er weiß alles, und er wird nicht darüber plaudern’. Und der Sohn war sehr freundlich, und wir hatten uns sofort gerne – dasselbe Alter, dasselbe Interesse und selbe Sprache. Und dann musste ich mich verabschieden von dem Sohn, und er hat zu mir gesagt: ‚Einmal können wir wieder Freunde sein’. Aber ich hab nie seinen Namen gekannt und weiß nicht, was mit ihm passiert ist – das möchte ich gerne wissen.

So und nun, wie ging das weiter, dass ihr über die Grenze dann gekommen seid?

Dann fuhr die Mutter zurück, und eine Frau von Basel, das wurde durch Albert Falk arrangiert, fuhr mit uns zum Rhein mit einem Wagen, und dann gingen wir ein kurzes Stück zum Wasser, und dort kam ein Wehrmachtsoldat und sagte zu ihr: ‚Wo gehen Sie hin?’. Und sie zeigte ihm einen gefälschten Passport, mit einem Bild von meiner Schwester und mir eingetragen als ihre Kinder. Und er schaute das an und sagte: ‚Das stimmt nicht. Das sind nicht ihre Kinder, das sind Juden von Salzburg. Ich kannte die Friedman, und ich war früher in Salzburg’. Er war in Salzburg. Und dann sagte er etwas sehr Gefährliches für sich: ‚Ihr könnt dorten über die Brücke gehen’. Und das war ein sehr großes Risiko für ihn, würde er erwischt, so würde er sofort getötet. Wir wären später in ein KZ gekommen. Und er war mein Held des Zweiten Weltkriegs.

Und auf diese Weise seid ihr dann in die Schweiz gekommen und habt dann euren Vater getroffen?

Ja, in Basel.

Und jetzt müssen wir noch erzählen, wie die Mutter dann noch zu euch gestoßen ist. Nur zum Jahr – eure Flucht war noch im Jahr 38, und deine Mutter lebte noch in Salzburg – und jetzt haben wir das Jahr 1939.

39, ja. Und Albert Falk arrangierte mit Paul Grüninger, der St. Gallener Polizeichef, um die Mutter zu retten. Grüninger hat viele Juden gerettet gegen den Befehl [der Schweizer Regierung: Zierlinger] – sein Befehl war, die Juden müssen draußen bleiben, und wenn sie über die Grenze kommen, sofort zurückschicken, aber er konnte das nicht machen.

Er hat über 100 Juden – hat er da gerettet?

Ja, das stimmt. Und er hatte jemanden im früheren Vorarlberg, jetzt Deutsches Reich, der ihm geholfen hat, einen deutschen Beamten. Und so ist es meiner Mutter gelungen, in die Schweiz zu kommen und dann nach Basel [und euch zu treffen: Zierlinger].

Und dann vielleicht noch vorher in Salzburg, da war die Situation für die Mutter auch immer schwieriger, sie musste ja dann auch ihre Wohnung verlassen. Kannst du darüber auch noch erzählen?

Ja, sie hatte mehrere Telefonate, dass sie nicht in der Wohnung bleiben darf, jemand brauchte die Wohnung. Sie war ganz allein. Und dann hat sie einen Brief bekommen von Otto Begus – ich glaub, der war Polizei- oder SS-Chef in Salzburg –, und der schrieb: Sie müssen die Wohnung sofort verlassen, sonst wird ihnen etwas geschehen. Und dann ist sie sofort weggegangen, und ihre Freundin, Frau Fürst in der Linzer Straße, hat sie hineingenommen.

Und von da an hat sie versucht, überhaupt aus Salzburg – aus dem Deutschen Reich – dann rauszukommen?

Ja, und Begus war auf der zweiten Liste im Nürnberger Prozess – er war der Mann, der die Tötung von Dollfuß [Anm: Österreichischer Bundeskanzler 1932-34] arrangiert hat, er hat selbst nicht geschossen, aber er war auf Liste 2 der Kriegsverbrecher, und der ist verschwunden. Die Alliierten haben ihn nie gefunden.

Die Familie ist jetzt vereint in der Schweiz – und jetzt muss ich das etwas kürzer machen. Die Flucht insgesamt ging dann von der Schweiz nach Frankreich. In Frankreich, wenn du noch erzählst, wird dann dein Vater eingesperrt, wenn du noch die Gründe anführst, warum dein Vater eingesperrt wurde oder wie lange, und was das für euch dann bedeutet hat in Frankreich?

Ja, jetzt ist 1939, und im September 1939 hat der Krieg in Europa angefangen – und sofort haben die Franzosen erklärt, dass alle gebürtigen Österreicher oder Deutsche eingesperrt werden – und meistens jüdische Flüchtlinge, aber auch Nichtjuden und sogar Nazis, die dorten gelebt haben. Und meine Mutter hat nicht gehört, wo ihr Mann hingebracht wurde – ich war damals zu jung, ich war unter 18. Nach ein paar Monaten hat sie gehört, dass er in einem Lager war hoch in den Pyrenäen – ein Gebirge in der Nähe der spanischen Grenze [Anm.: Siehe dazu im Glossar]. Es war sehr kalt dorten und sehr primitiv, und sie hat ihm manchmal etwas Warmes geschickt wie Socken oder einen Pullover und auch kleine Pakete von Lebensmitteln.

Und nach ein paar Monaten ist er dann freigekommen, weil hier die Franzosen eben doch einen Unterschied dann gemacht haben zwischen Flüchtlingen und Nazis?

Ja, zwischen Flüchtlingen und wirklichen Feinden. Und viele der jüdischen Männer - die jüngeren - sind sofort in die französische Armee eingezogen [eingetreten: Zierlinger].

Ihr ward ja ziemlich lange in Frankreich. Und kannst du da noch so ein Erlebnis schildern, das du auch als sehr bedrohlich empfunden hast?

Ja, mein Vater war noch im Lager, und wir lebten im südlichen Teil von Frankreich, das wurde nicht besetzt von den Nazis, aber ein faschistisches Regime von Pétain, die Vichy-Region, war dort die Regierung, und die haben viele Juden eingesperrt. Sie haben die Juden verhaftet, bevor die Nazis den Befehl hatten. Und eines Tages – ich bin mehrmals ins Land gefahren mit meinem Fahrrad, um Gemüse oder Kartoffeln zu kaufen von dem Bauern, wir hatten nicht genug zum Essen in der Stadt – und eines Tages, mein Fahrradkorb war gefüllt, und ein deutscher Wagen mit vier Offizieren stoppte mich, und sie haben mich sofort auf Deutsch gefragt: ‚Was machst du? Wo gehst du hin?’. Und ich hab meinen Kopf geschüttelt und in Französisch geantwortet: ‚Ich versteh Sie nicht!’ und hab alle Fragen französisch beantwortet, und keiner hat entdeckt, dass Französisch nicht meine Sprache war. Und das war mein großes Glück, und die glaubten, dass ist nur ein dummer Bursch, und sie sind weggefahren.

Ihr ward ja insgesamt auf der Flucht von also 38 – Ende 38 – bis 41?

Stimmt, ja.

Also, so lange. Jetzt möchte ich auch auf die Frage eingehen, die hier gestellt worden ist, wie erlebt nun ein Kind die Schrecken der Vertreibung? Werden Kinder die Gründe dafür plausibel? Hast du als Kind – du warst damals 13, 14, 15 – schon das einordnen können, den Zusammenhang erkannt, warum ihr jetzt auf der Flucht seid?

Ja, ich verstand, dass eine sehr schlechte Gruppe Deutschland, Österreich und später andere Länder übernommen hatte, und die wollten alle Juden und alle Nichtdeutschen wegschicken oder zu Sklaven machen. Und ich hab immer gedacht, das wird nicht zu lang dauern. Eines Tages wird meine Heimat wieder frei werden.

Du hast aber geglaubt, dass es früher gehen wird, dass es nicht so lange dauert – bis 1945? Hast du die Vorstellung gehabt, vielleicht ist es früher aus?

Nein, ich glaubte, das wird schon dauern [hast du schon die Ahnung gehabt: Zierlinger]. Wir haben die Kriegsberichte gelesen, und wie die Deutschen fast bis zur grand Stadt Moskau und Stalingrad gekommen sind. Aber dann langsam haben die Alliierten gewonnen und Länder befreit.

Fred, wie haben sich jetzt gerade diese Erfahrung und diese Jahre der Flucht schließlich auch ausgewirkt auf deine Persönlichkeitsentwicklung? Du warst ja Kind, dann bist du in die Pubertät gekommen in der damaligen Zeit, und wie hat sich das letztlich ausgewirkt? Bist du schneller erwachsen geworden?

Ja, ich glaub schon und das Erste, das ich dachte, man darf nie die Hoffnung aufgeben. Man muss optimistisch sein.

Ja, das war wichtig.

Und dass die meisten Leute anständig sind, aber ich werd immer Glück haben – und ich hatte immer Glück. Das war mein Gefühl – mein persönliches Gefühl.

Und so eine richtige Art von Verzweiflung?

Hab ich nicht gefühlt.

Hast du nicht gefühlt, aber durch die Hoffnung, dass es irgendwann einmal aus ist und dass wir gerettet und dass wir dann irgendwo auf sicherem Boden sein werden, das hat dich immer getragen?

Ja, ja.

Und auch die Mutter – hat die euch dabei unterstützt? Hat sie euch also Hoffnung auch vermittelt?

Ja. Die Eltern haben uns gesagt: ‚Wir werden Schwierigkeiten haben, wir müssen studieren, und wir können schon ein schönes Leben haben’.

Und dann war euer nächster Schritt ein Visum zu erlangen für die Ausreise in die USA?

Ja, und Verwandte von unserer Familie kannten die Grosinger-Familie, und die Grosinger-Familie hat ein – in Amerika sagt man „affidavit“ [Anm: mittellateinisch „er hat geschworen“; eidesstattliche Versicherung im angloamerikanischen Rechtsverkehr zur Bekräftigung einer Tatsachenbehauptung vor Gerichten oder Behörden. In den USA auch die Bürgschaftserklärung eines Staatsbürgers, für den Unterhalt eines Einwanderers aufzukommen] – ein Zeugnis geschrieben, dass unsere Familie nie eine Last für New York und Amerika werden würde und dass sie versichern, dass sie, wenn nötig, Geld zahlen, falls wir zur Last würden. Und das haben sie für einige Leute gemacht, die sie kannten, und die haben uns gut empfangen, und später sind wir nach Liberty New York gekommen.

Ja, und Verwandte von unserer Familie kannten die Grosinger-Familie, und die Grosinger-Familie hat ein – in Amerika sagt man „affidavit“ [Anm: mittellateinisch „er hat geschworen“; eidesstattliche Versicherung im angloamerikanischen Rechtsverkehr zur Bekräftigung einer Tatsachenbehauptung vor Gerichten oder Behörden. In den USA auch die Bürgschaftserklärung eines Staatsbürgers, für den Unterhalt eines Einwanderers aufzukommen] – ein Zeugnis geschrieben, dass unsere Familie nie eine Last für New York und Amerika werden würde und dass sie versichern, dass sie, wenn nötig, Geld zahlen, falls wir zur Last würden. Und das haben sie für einige Leute gemacht, die sie kannten, und die haben uns gut empfangen, und später sind wir nach Liberty New York gekommen.

Ja, und Verwandte von unserer Familie kannten die Grosinger-Familie, und die Grosinger-Familie hat ein – in Amerika sagt man „affidavit“ [Anm: mittellateinisch „er hat geschworen“; eidesstattliche Versicherung im angloamerikanischen Rechtsverkehr zur Bekräftigung einer Tatsachenbehauptung vor Gerichten oder Behörden. In den USA auch die Bürgschaftserklärung eines Staatsbürgers, für den Unterhalt eines Einwanderers aufzukommen] – ein Zeugnis geschrieben, dass unsere Familie nie eine Last für New York und Amerika werden würde und dass sie versichern, dass sie, wenn nötig, Geld zahlen, falls wir zur Last würden. Und das haben sie für einige Leute gemacht, die sie kannten, und die haben uns gut empfangen, und später sind wir nach Liberty New York gekommen.

Ja also, ihr seid dann von Frankreich nach Spanien, Portugal und in Lissabon seid ihr dann getrennt auf zwei Schiffe ...

... auf zwei amerikanischen Schiffen, wir konnten nicht vier Plätze auf einem Schiff bekommen. Ich hab den Namen vergessen, aber das waren die letzten zwei amerikanischen Schiffe [mit denen ihr dann noch in die USA gelangt seid: Zierlinger].

Gut Fred, und jetzt müssten wir noch eine Frage dann beantworten, nämlich: Du hast ja deine Heimat verloren, du bist dann ins Exil, hast eine neue Existenz aufgebaut – und wie du jetzt dann wieder nach Österreich zurückgekommen bist? Mit welchem Gefühl bist du da zurückgekommen? Wenn du vielleicht dich erinnerst an das erste Mal, wie du nach Salzburg gekommen bist?

Ein bisschen neugierig, wie werden die Leute mit mir sprechen, und mit sehr viel Hoffnung. Und ich hab so viele Gebäude erkannt – sogar in der Altstadt –, und die beschädigten Gebäude waren schon repariert.

Wann bist du das erste Mal nach Salzburg – kannst du dich daran erinnern – so ungefähr?

In den 60er-Jahren. Ich glaub 62, 63 – cirka.

Also meine Frage war jetzt, wann du begonnen hast über deine Vergangenheit, die Vergangenheit deiner Familie zu recherchieren und dann auch darüber zu sprechen?

Ja, in den 80er-Jahren war ich in Wien und hab das alte Rathaus besucht, und jemand hat mir gesagt, ich soll’s besuchen und die Gestapo-Akten anschauen.

Das war der Beginn, wie du auch nach deinen Großmüttern geforscht hast?

Und etwas anderes, ich hab die jüdische Gemeinde in Salzburg besucht und Herrn Feingold [Anm.: Hofrat Marko Feingold, Präsident der jüdischen Kultusgemeinde in Salzburg] getroffen, und der – ich hab mit ihm über meine Jugend gesprochen, es ihm erklärt, und dann hab ich gehört, dass ein Mann von meiner Klasse nach Wien gegangen war zu der Israelitischen Botschaft und sie gefragt hat, ob sie auch Fred Friedman kennen. Und die sagten – sie haben ihre Akten durchgeschaut –, und wir haben den Mann von Salzburg nie getroffen, von uns nichts gehört. Und sie sagten: Geht zurück nach Salzburg und fragt Feingold. Und Feingold sagte: ‚Ja, ich kenne ihn, der war vor ein paar Wochen hier, hier ist seine Telefonnummer, seine Adresse, und dann könnten wir miteinander sprechen’. Und das war Heindl, ein Professor, der schon ganz jung war, und er war Professor in Salzburg und auch in Mailand. Und da haben wir sehr viel über die alten Zeiten gesprochen und sind herumgewandert.

Und warum, Fred, ist es dir jetzt auch sehr wichtig, mit jungen Leuten zu sprechen?

Ich möchte gerne hören, was die denken über die Vergangenheit und die Zeitgeschichte. Und in Österreich sind sie sehr interessiert, und ich hab schon mit vielen Gruppen gesprochen – nicht nur auf diese Weise, aber auch vor zwei Jahren in Braunau.

Du kehrst ja jetzt immer gerne nach Österreich zurück, und was bedeutet dir das jetzt immer, nach Österreich zu kommen, Menschen zu treffen – du hast ja schon sehr viele Bekannte gefunden?

Ja, sehr gerne. Ich muss eine Lücke füllen, eine Lücke in meiner Jugend. Ich hab ein paar Jahre verloren, und die such ich jetzt.

Und hast schon einiges gefunden – also Mosaiksteinchen?

Ja, ja. Und das wird aufgebaut. Und ich möchte auch dasselbe in Amerika machen, mit den jungen Leuten dorten, zu erklären. Ich spreche zu Schulen, und jetzt hab ich einen Missionar gefunden, der will eine Gruppe gründen in Amerika – evangelische Gruppe –, die über das Judentum studieren und Israel studieren. Und dann wird er Gruppen nach Israel bringen und auch Österreich. Und er hat mich gefragt – das war vor ein paar Wochen –, ob ich ihm helfen würde. Ich sagte: Sehr gerne. Und das werden wir in einem Monat anfangen – in einer Kirche in Buffalo.

Du möchtest einfach Brücken bauen – auch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen älteren Menschen und jüngeren Menschen?

Ja, das ist sehr wichtig. Das ist die beste Impfung gegen eine neue radikale Gruppe in Europa oder in Amerika – es könnte auch dorten passieren.

Fred, ich danke für das Gespräch. Danke schön.

Glossar und Erläuterungen

Chanukka [hebräisch „Weihe“] die:

achttägiges jüdisches Fest im Dezember (ab 25. Kislew) zur Erinnerung an die von Judas Makkabäus veranlasste Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem (165 v. Chr.); charakteristisch ist das täglich fortschreitende Anzünden der Lichter am achtarmigen Chanukkaleuchter; daher auch Lichterfest genannt.

Einmarsch/Anschluss:

Unter deutschem Druck gab Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg die für den 13. März 1938 geplante Volksabstimmung über den Erhalt der Unabhängigkeit auf und trat am 11. März zurück. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 12. März 1938 vollzog der von Bundespräsident Miklas zum Bundeskanzler ernannte Seyß-Inquart den „Anschluss“ an das Deutsche Reich (durch Volksabstimmung am 10. April 1938 bestätigt).

Hitler-Jugend:

Abkürzung HJ, Jugendorganisation der NSDAP, gegründet 1926, unterstand ab 1931 einem Reichsjugendführer. Die große Zahl der deutschen Jugendverbände musste nach 1933 der HJ weichen, die 1936 zur Staatsjugend erhoben wurde. Ab 1939 war die Mitgliedschaft für alle Jugendlichen vom 10. bis 18. Lebensjahr Pflicht; Gliederungen: Deutsches Jungvolk (DJ; Jungen von 10 bis 14 Jahren, „Pimpfe“ genannt), Deutsche Jungmädel (DJM; Mädchen von 10 bis 14 Jahren, „Jungmädel“ genannt), die eigentliche HJ (Jungen von 14 bis 18 Jahren), Bund Deutscher Mädel (BDM; Mädchen von 14 bis 18 Jahren).

Goebbels, Paul Joseph:

Politiker, geboren in Rheydt (heute zu Mönchengladbach) am 29. Oktober 1897, gestorben (Selbstmord) in Berlin am 1. Mai 1945; aus katholischem Elternhaus stammend, studierte u. a. Germanistik; zunächst erfolgloser Schriftsteller, wurde er 1924 Redakteur in Elberfeld sowie Mitglied der NSDAP und gehörte dem („sozialistischen“) Kreis um G. Strasser an, in dessen Auftrag er die „Nationalsozialistischen Briefe“ (ab Oktober 1925 bis 1927) leitete. Nach dem Einschwenken auf A. Hitler wurde er von diesem 1926 zum Gauleiter der NSDAP von Berlin-Brandenburg ernannt und erhielt den Auftrag, das „rote“ Berlin für die NSDAP zu „erobern“. Hier gab er 1927–35 das Kampfblatt „Der Angriff“ heraus. Seit 1928 MdR, seit 1929 Reichspropagandaleiter der NSDAP, entfaltete Goebbels seine demagogisch-agitatorischen Fähigkeiten (v. a. systematischer Einsatz von Rundfunk und Film). Am 13. Mäz 1933 von Hitler zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ernannt, gab Goebbels täglich Presseanweisungen; auch als Leiter der Reichskulturkammer (seit September 1933) beherrschte er durch Gleichschaltung aller Massenmedien und durchdringende Kontrolle weitestgehend das geistige und kulturelle Leben in Deutschland (Presse, Rundfunk, Film, Literatur, Musik und Kunst). Gestützt auf einen von ihm aufgebauten Propagandaapparat, trat Goebbels mit besonderer demagogischer Rhetorik, mit geschickten Manipulationen (z. B. Schüren des Judenhasses oder antipolnischer Ressentiments) und mit Zynismus als Einpeitscher der nationalsozialistischen Ideologie und ihres pseudoreligiösen Führerkults hervor (späterer Höhepunkt: Rede im Berliner Sportpalast, 18. Februar 1943, Aufruf zum „totalen Krieg“); er war am 9./10. November 1938 maßgeblich an der Inszenierung der Judenpogrome („Reichskristallnacht“) beteiligt. Wegen privater Affären vorübergehend (1938) bei Hitler in Ungnade gefallen, gewann Goebbels 1939 – nach Kriegsbeginn – seine einflussreiche Stellung zurück. Seit Mai 1940 bestimmten seine Leitartikel die Linie der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Das Reich“, in der er sich mit einer in ihrer Struktur raffinierten Propaganda an die gebildeten Schichten wandte (Beschwörungen des „Endsiegs“, Andeutung von „Wunderwaffen“, einer „Alpenfestung“ und Ähnlichem). Während des Aufstandsversuchs vom Zwanzigsten Juli 1944 gelang es ihm, die Entwicklung der Ereignisse für das NS-Regime positiv zu wenden. Ab 22. Juli 1944 „Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“ und später auch „Stadt-Präsident“ von Berlin, suchte Goebbels noch im März/April 1945 die Illusion des „Endsiegs“ propagandistisch wach zu halten. Von Hitler am 29. April 1945 testamentarisch zum Nachfolger als Reichskanzler ernannt, ermordete er wenige Stunden nach dessen Tod seine sechs Kinder und nahm sich gemeinsam mit seiner Frau Magda Goebbels (geb. 1901; Heirat 1931) das Leben. – Goebbels war neben Hitler und H. Himmler einer der Hauptverantwortlichen für die nationalsozialistischen Verbrechen. – Nach 1990 beziehungsweise 1992 (Abkommen mit der Verwaltung russischer Archive) wurden bisher unbekannte Teile seiner Tagebücher (schon 1948, 1960 und 1977 als Fragmente herausgegeben) entdeckt und durch das Institut für Zeitgeschichte sowie das Bundesarchiv als bedeutende Quellen zur Erforschung des Nationalsozialismus publiziert.

Mussolini, Benito:

italienischer Politiker, geboren in Predappio (Provinz Forlì-Cesena) am 29. Juli 1883, gestorben (erschossen) in Giulino di Mezzegra (Provinz Como) am 28. April 1945; Sohn eines republikanisch-sozialistisch engagierten Lokalpolitikers (von Beruf Schmied) und einer kirchlich orientierten Lehrerin. Seit Beginn der 30er-Jahre, als Mussolini auf dem Höhepunkt seiner persönlichen Machtentfaltung als Diktator stand, verfolgte er zunehmend eine imperialistische Außenpolitik. Nach der Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuss (1934) konnte er Hitler von der gewaltsamen Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich noch zurückhalten. Nach einem Kolonialabkommen mit Frankreich (1935) ließ er 1935 italienische Truppen in Äthiopien einmarschieren, um die Grundlage eines italienischen Reiches im Mittelmeerraum zu legen. Unter dem Eindruck der Sanktionen des Völkerbundes gegen seine expansionistische Politik näherte sich Mussolini dem nationalsozialistischen Deutschland; gemeinsam intervenierten Hitler und Mussolini im Spanischen Bürgerkrieg (Juli 1936 bis März 1939) und begründeten im Oktober 1936 die Achse Berlin–Rom. Vor dem immer mächtiger werdenden Deutschen Reich musste Mussolini im März 1938 den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich hinnehmen. Die Vermittlung Mussolinis in der Sudetenkrise (September 1938) bei Abschluss des Münchener Abkommens blieb für ihn ein kurzlebiger persönlicher Propagandaerfolg. Seine Politik geriet seitdem immer stärker in die Abhängigkeit vom nationalsozialistischen Deutschland (auch innenpolitisch: Übernahme der nationalsozialistischen Rassengesetze). Weitere Bündnisabschlüsse (Stahlpakt, Mai 1939; Dreimächtepakt, September 1940) sowie der Eintritt Italiens an der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg (Juni 1940) vertieften die politische Abhängigkeit Mussolinis von Hitler. In Verbindung mit militärischen Misserfolgen Italiens im Zweiten Weltkrieg führten innere Krisen zum Ende der Herrschaft Mussolinis. Nach Massenstreiks im März 1943 und der Invasion der Westalliierten in Sizilien (9./10. Juli) stürzte der Gran Consiglio del Fascismo auf Initiative D. Grandis am 25. Juli den Diktator und übergab den militärischen Oberbefehl an den König. Dieser ließ Mussolini noch am selben Tage verhaften. Aus der Haft auf dem Campo Imperatore am Gran Sasso d’Italia am 12. September 1943 von deutschen Fallschirmjägern befreit, führte Mussolini in völliger Abhängigkeit von Deutschland die Repubblica Sociale Italiana (auch Republik von Salò genannt), deren Staatsgebiet angesichts des Rückzuges der deutschen Truppen in Norditalien ständig schrumpfte. Kurz vor Kriegsende 1945 wurde Mussolini mit seiner Geliebten Clara Petacci auf der Flucht von italienischen Widerstandskämpfern gefangen genommen und erschossen.

Nürnberger Prozesse:

Gerichtsverfahren, die 1945–49 von einem Internationalen Militärgerichtshof oder von amerikanischen Militärgerichten in Nürnberg zur Ahndung von nationalsozialistischen Straftaten durchgeführt wurden. Auf der Grundlage der Moskauer Dreimächteerklärung vom 30. Oktober 1943 und des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 bildeten Frankreich, Großbritannien, die USA und die UdSSR einen Internationalen Militärgerichtshof, vor dem am 18. Oktober 1945 Anklage gegen 22 „Hauptkriegsverbrecher“ erhoben wurde (ursprünglich gegen 24; R. Ley beging vor Prozessbeginn Selbstmord, G. Krupp von Bohlen und Halbach wurde für nicht verhandlungsfähig erklärt). Dieser Hauptprozess (20. November 1945 bis 1. Oktober 1946) endete mit 12 Todesurteilen gegen M. Bormann (in Abwesenheit), H. Frank, W. Frick, H. Göring, A. Jodl, E. Kaltenbrunner, W. Keitel, J. von Ribbentrop, A. Rosenberg, F. Sauckel, A. Seyß-Inquart, J. Streicher. Göring beging Selbstmord, die Übrigen wurden am 16. Oktober 1946 gehängt. K. Dönitz, W. Funk, R. Heß, K. Freiherr von Neurath, E. Raeder, B. von Schirach, A. Speer erhielten Haftstrafen zwischen 10 Jahren und lebenslänglich; H. Fritzsche, F. von Papen und H. Schacht wurden freigesprochen. Als verbrecherische Organisationen und Gruppen wurden SS, SD, Gestapo und Führerkorps der NSDAP eingestuft. 1946–49 fanden zwölf Nachfolgeprozesse (Nürnberger Folgeprozesse) vor amerikanischen Militärgerichten statt, bei denen mit 177 Einzelpersonen jeweils bestimmte politische, militärische oder wirtschaftliche Führungsgruppen im Mittelpunkt der Anklage standen. Gegenstand der Verhandlungen waren u. a. medizinische Versuche an KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen sowie die Euthanasie-Aktion ([Nürnberger] Ärzteprozess), rechtswidrige Verfolgung von Juden und Gegnern des Nationalsozialismus durch hohe Justizbeamte (Juristen-Prozess), Verwaltung von Konzentrationslagern (Pohl-Prozess), Beschäftigung von ausländischen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen in der Industrie (IG-Farben-Prozess, Krupp-Prozess, Milch-Prozess), Geiselmorde (Generals-Prozess), Mordtaten von SS-Einsatzgruppen (Ohlendorf-Prozess), Anwendung des Kommissarbefehls (OKW-Prozess). Der Holocaust spielte im RSHA-Prozess sowie im Wilhelmstraßen-Prozess eine vorrangige Rolle. Von 24 Todesurteilen wurden zwölf vollstreckt, 35 Angeklagte wurden freigesprochen, alle verhängten Haftstrafen wurden bis 1956 aufgehoben. – Von den drei Verbrechenskomplexen, die in den Nürnberger Prozessen verhandelt wurden, waren die Kriegsverbrechen (wie Mord und Misshandlung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen, Deportation der Zivilbevölkerung, Plünderung) vom geltenden Völkerrecht definiert, die Zulässigkeit ihrer Ahndung durch die Sieger stand außer Frage. Auch bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die als völkerrechtliche Verbrechen definiert wurden, handelte es sich um schon immer strafbare Taten. Zweifelhaft war allerdings, ob nach dem bis 1945 geltenden Völkerrecht die deutschen Angriffskriege als „Verbrechen gegen den Frieden“ strafbar waren. (NS-Prozesse).

Pétain, Henri Philippe:

französischer Marschall und Politiker, geboren in Cauchy-à-la-Tour (Département Pas-de-Calais) 24. April 1856, gestorben in Port-Joinville (Insel Yeu) 23. Juli 1951; Berufssoldat, nach Beginn des Ersten Weltkrieges zum General (1914) befördert, zeichnete sich als Kommandeur der 2. Armee bei der Offensive in der Champagne (September 1915) aus; wurde als Verteidiger von Verdun 1916/17 zum Nationalhelden. Im November 1918 zum Marschall ernannt. 1920–31 war er Vizepräsident des Obersten Kriegsrates, 1922–31 Generalinspekteur der Armee, leitete 1925 den Feldzug gegen die Rifkabylen; 1931–34 Inspekteur der Luftverteidigung, 1934 Kriegsminister, ab 1939 Botschafter in Madrid. Die antiparlamentarische und antisemitische Orientierung offenbarte sich seit den 1930er-Jahren. Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich 1940 wurde Pétain stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung Reynaud (18. Mai 1940). Angesichts der sich abzeichnenden französischen Niederlage plädierte Pétain aus Furcht vor Anarchie und sozialer Revolution für einen Waffenstillstand. Nach P. Reynauds Rücktritt zum Ministerpräsidenten (17. Juni 1940 ernannt, konnte er sich durchsetzen (22./24. Juni Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich und Italien). In Vichy (nach der Übersiedlung von Regierung und Nationalversammlung) übertrugen ihm die verbliebenen Abgeordneten alle legislativen und exekutiven Vollmachten, die Kontrolle der Jurisdiktion und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung (10./11. Juli 1940). Als „Chef de l’État Français“ („Chef des französischen Staates“), der die Funktionen von Staats- und Ministerpräsident vereinigte, verfolgte Pétain das Konzept einer „nationalen Revolution“, die auf die Erneuerung traditioneller Werte („Gott, Familie, Vaterland“) und Wiederherstellung der Einheit der Nation zielte und antirepublikanische Maßnahmen sowie antisemitische Gesetzgebung einschloss. Außenpolitisch suchte Pétain die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich, um in einem neuen Europa deutscher Ordnung die Stelle eines Partners einzunehmen und einer sowjetischen Hegemonie vorzubeugen (Treffen mit Hitler in Montoire, 24. Oktober 1940). Nach dem deutschen Einmarsch in das unbesetzte Frankreich (November 1942) immer stärker unter Druck, versuchte er erst die Entwicklung zum Satellitenstaat aufzuhalten, stimmte dann aber dem Eintritt von Faschisten in das Kabinett Laval zu und tolerierte die Ausbildung eines Zwangs- und Polizeistaates. Nach seiner Internierung durch die Deutschen in Belfort (ab 20. August 1944) und Sigmaringen (ab 8. September) ging Pétain im April 1945 in die Schweiz und stellte sich wenig später den französischen Behörden. Am 15. August 1945 wurde Pétain vom Obersten Gerichtshof wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt, wegen seines hohen Alters wurde die Strafe ausgesetzt und Pétain auf die Insel Yeu verbannt.

Purimfest (Losfest):

jüdisches Fest am 14. Adar (Februar/März) zur Erinnerung an die Errettung der persischen Juden durch Esther und Mardochai (Altes Testament, Esther 9, 17 folgende); heute v. a. ein Volksfest.

Reichskristallnacht:

Mit diesem eher verharmlosenden Ausdruck wird – besonders im Jargon der Nationalsozialisten – das in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 von den Nationalsozialisten organisierte Pogrom gegen die jüdischen Bürger Deutschlands bezeichnet, bei dem viele Synagogen, Wohnungen und Geschäfte durch Angehörige der SA verwüstet wurden. „Kristall“ spielt wohl auf die unzähligen Fensterscheiben und auf die großen Leuchter in zahlreichen Geschäften an, die in dieser Nacht zerschlagen wurden. Es ist nicht geklärt, wann genau vor 1945 diese Bezeichnung entstanden ist. „Kristallnacht“ und die entsprechende Zusammensetzung „Reichskristallnacht“ werden im heutigen Sprachgebrauch oft distanzierend in Anführungszeichen gesetzt oder mit dem Attribut „so genannte“ versehen, um sie als beschönigende, verhüllende Ausdrücke zu kennzeichnen.

Schuschnigg, Kurt (von):

österreichischer Politiker, geboren in Riva del Garda am 14. Dezember 1897, gestorben in Mutters (bei Innsbruck) am 18. November 1977; Rechtsanwalt, 1927–33 für die Christlichsoziale Partei im Nationalrat, 1932–34 Justiz-, ab 1933 auch Unterrichtsminister; wurde nach der Ermordung von E. Dollfuß 1934 Bundeskanzler, 1934–36 auch Unterrichts-, 1934–38 Verteidigungs-, 1936–38 Außenminister. Vergeblich suchte Schuschnigg die Unabhängigkeit Österreichs gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland zu sichern, er musste am 11. März 1938 zurücktreten und wurde verhaftet (1941–45 im KZ). 1945 ging er in die USA (1948–67 Professor in Saint Louis, Missouri), seit 1967 lebte er in Mutters.

Spanischer Bürgerkrieg:

militärische Auseinandersetzung 1936–39 zwischen nationalistisch-faschistischen und konservativ-traditionalistischen Kräften auf der einen und republikanischen Truppen auf der anderen Seite. Im Spanischen Bürgerkrieg entluden sich die Spannungen zwischen zentralistischem und autonomistischem Staatsdenken, zwischen traditionell-katholischen und liberal-sozialistischen Auffassungen. Hinzu kamen die Gegensätze zwischen Großgrundbesitzern, Bauern und Arbeitern. – General F. Franco Bahamonde löste im Juli 1936 in Spanisch-Marokko durch einen Putsch den Aufstand gegen die Republik aus, der dann auf das spanische Mutterland übergriff; Franco gewann Andalusien und stieß durch die Extremadura nach Kastilien vor; auf seiner Seite griffen Truppen des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland (Legion Condor, Zerstörung von Gernika-Lumo) ein, aufseiten der Republikaner, die militärtechnische Hilfen der UdSSR erhielten, zahlreiche Freiwillige aus vielen Nationen (Internationale Brigaden). Versuche auf internationaler Ebene, die Einmischung ausländischer Mächte zu unterbinden, scheiterten. Nach der vergeblichen Belagerung von Madrid (November 1936 bis März 1937) eroberte Franco 1937 Málaga, Bilbao, Santander und den Rest Asturiens; im Winter 1937/38 siegte er in den Kämpfen um Teruel. Der Durchbruch der Truppen Francos von Teruel zum Mittelmeer (damit Zweiteilung des noch verbliebenen republikanischen Herrschaftsgebietes) und die Eroberung Kataloniens (Januar/Februar 1939) entschieden den Spanischen Bürgerkrieg; Madrid wurde am 28. März 1939 kampflos besetzt. Am 1. April 1939 verkündete Franco das Ende des Bürgerkrieges. Die Zahl der Todesopfer betrug etwa 600.000–800.000 Menschen, davon mehr als die Hälfte Zivilisten.

Theresienstadt:

(tschechisch Terezín), Stadt im Nordböhmischen Gebiet, Tschechische Republik, an der Eger, rund 2.700 Einwohner. 1780 als österreichische Festung gegründet (benannt nach Kaiserin Maria Theresia). Das Konzentrationslager Theresienstadt (ab November 1941; ab Juli 1942 die gesamte Stadt) war zunächst v. a. zentrales Sammellager für Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, ab Anfang 1942 Getto für Juden über 65 Jahre („Altersgetto“) und „Vorzugslager“ für „privilegierte“ Juden, diente dann als angebliche „jüdische Mustersiedlung“ v. a. zur Zerstreuung ausländischer Kritik, aber auch als Sammelstelle beziehungsweise Durchgangslager innerhalb der Deportationen der Juden Mittel- und Westeuropas in die Vernichtungslager. Bis April 1945 wurden rund 141.000 Personen nach Theresienstadt verschleppt; nur 19.000 überlebten. Während der Vertreibung der Sudetendeutschen war Theresienstadt Internierungslager.



[5090] Auch Frau Irene Fürst musste Salzburg verlassen: „Ich habe es so geliebt, aber das ist vorbei. Ich war nach dem Krieg in Europa, aber nie mehr in Salzburg. Ich konnte einfach nicht, ich hatte Angst, dass ich jemanden umbringe. ... Wenn Sie nach Salzburg kommen, gehen sie zum meinem Geschäft, Linzer Gasse 5. Gegenüber ist ein Restaurant, und gleich neben die Geschäft ist eine Apotheke. Und dann gehen Sie hinunter zum Platzl. Ist da noch das Käsegeschäft? ... Stellen Sie sich aufs Platz und riechen Sie! Und alles, was ich erzählt habe, wird sich zu einem Bild zusammenfügen.“ So wird sie zitiert in: Baker, Frederik (Hg.): „Europa erlesen – Salzburg“. Klagenfurt: Wieser Verlag 2004. Zitiert nach: www.drehpunktkultur.at/sites/texte/5127.htm, vom 8. September 2004.

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