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Tradition ist dynamische Entwicklung (Hans Roth)

Hans Roth, Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege i. R.; Vorsitzender des Historischen Vereins Rupertiwinkel, übermittelte am 13. Juni 2004 ein schriftliches Statement an die Herausgeberinnen.

In Bayern hat die enge Verbindung der Heimatpflege mit dem Fach Volkskunde bereits in den frühen 1930ern begonnen.

Nicht erst in den frühen 1930er-Jahren. Die enge Verbindung zwischen den Zielsetzungen der Heimatpflege und der Volkskunde bestehen von Anfang an, als 1902 der heutige „Bayerische Landesverein für Heimatpflege“, damals unter dem Namen „Verein für Volkskunst und Volkskunde“ als Dachorganisation für alle volkskundlich forschenden und Materialien sammelnden Medien gegründet wurde. Neben namhaften Architekten, die sich der heimischen Bauweise widmeten und die zu den Begründern der Bauernhausforschung zählen, wie August Thiersch oder Franz Zell, bestimmten die Vereinsarbeit Volkskundler wie der Märchenforscher Friedrich von der Leyen, der Volksliedsammler August Hartmann, der Arzt Max Höfler, der sich mit Volksmedizin beschäftigte oder der Volksbotaniker Heinrich Marzell. Als Mitarbeiter gesellten sich später noch hinzu: Marie Andree-Eysen, Rudolf Kriss, der Volkskunstforscher Hans Karlinger oder der Philologe Otto Maußer. Schon 1908 beginnt die Fragebogenaktion für eine „Sammlung volkstümlicher Überlieferungen und Gebräuche“ und die „Erhebung alter Flurnamen“. Unter der Schriftleitung des Volkskundlers Adolf Spamer erscheinen als zusätzliches Publikationsorgan ab 1914 die „Bayerischen Hefte für Volkskunde“, 1940 fortgesetzt durch die „Bayerisch-Südostdeutschen Hefte für Volkskunde“ als Nachrichtenblatt der Wörterbuchkommission der Akademien der Wissenschaften in München und Wien.

Obwohl 1916 in „Bayerischer Landesverein für Heimatschutz“ umbenannt, führte er weiterhin den Untertitel „Verein für Volkskunst und Volkskunde“, was für den hohen Stellenwert der Volkskunde innerhalb der vielseitigen heimatpflegerischen Vereinsarbeit spricht. Die 1938 errichtete „Landesstelle für Volkskunde“ wurde der Kommission für bayerische Landesgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angegliedert.

Und Sie haben mit Ihrem Eintritt in die Geschäftsstelle des Landesvereins 1970 die bewährte Linie fortgeführt.

Trotz der 1962 erfolgten institutionellen Trennung blieb die räumliche Hausgemeinschaft bis 1994 erhalten, die eine enge fachliche Zusammenarbeit und den gegenseitigen Erfahrungsaustausch gewährleistete, für beide Seiten von Nutzen. Der Bayerische Landesverein für Heimatpflege übernahm – weil er über Finanzierungsmittel verfügte – 1970 sogar die von der Landesstelle in den Nachkriegsjahren begonnene Inventarisation der Votivbildbestände Bayerns. Ein besonders intensives fachliches Miteinander besteht auf dem Gebiet der Volksmusikforschung durch die Ausrichtung von Tagungen und Seminaren, deren Ergebnisse in gemeinsam erarbeiteten Publikationen münden.

Welche Auswirkungen sind daraus bis heute entstanden?

Mir war es immer wichtig, die Ergebnisse volkskundlicher Forschung mit den heimatpflegerischen Zielsetzungen in Einklang zu bringen, das heißt: die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Alltagspraxis der regionalen Kulturpflege. Diese werden wirksam in der Brauchtumspflege, der Trachtenerneuerung, der Pflege der Volksmusik, des Volksliedes und des Volkstanzes oder bei der Wiederbelebung und Förderung des Mundarttheaters sowie in der kritischen Begleitung der heutigen Festeskultur.

Eine überzeugende Heimatpflege in allen ihren Teilaspekten lässt sich nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung leisten, wobei es die Formen historischer Überlieferung weniger zu kopieren, sondern diese weiter zu entwickeln und mit zeitgemäßer Sinngebung zu erfüllen gilt. Nur auf der Basis empirischer Untersuchungen kann die Heimatpflege Missbräuchen, Missverständnissen und der Vermarktung regionalen Brauchtums wirkungsvoll begegnen, aber auch darstellen, dass Brauchtum, Tracht, Volksmusik und Mundart als Äußerungen des gelebten Lebens immer einem gesellschaftlichen und sozialen Wandel und nachhaltigen Einflüssen von außen unterworfen waren. Die Volkskunde als wissenschaftliche Disziplin darf sich nicht – sofern sie ihren Stellenwert in der Öffentlichkeit behaupten will –, als eine vom regionalen Kulturgeschehen isolierte Wissenschaft verstehen, sondern muss sich argumentativ einbringen in die Pflege und Förderung der Regionalkultur. Wenn heute in Bayern volkskundliche Lehrstühle offenbar als verzichtbar zur Disposition stehen und Institutionen mit starken Mittelkürzungen zu rechnen haben, dann wird von staatlicher Seite zu wenig erkannt, welche negativen Auswirkungen dies für die regionale Kulturpflege und damit für die Identifikation der Menschen mit ihrem Lebensraum haben wird.

Welche Kontakte wären in Ihrem Arbeitsfeld mit dem Nachbarn Salzburg für Sie interessant?

Schon durch meine Herkunft aus dem Rupertiwinkel war ich immer an einem engen Kontakt mit den Salzburger Institutionen interessiert, der sich nicht nur auf das volkskundliche Arbeitsfeld beschränkte, sondern im Rahmen der „Arge Alp“ auch denkmalpflegerische Ziele mit einschloss, so z. B. Diebstahlsicherung beweglicher Kunstwerke. Die Kontakte wurden seit 1995 vertieft durch eine Reihe von realisierten Initiativen der von mir geleiteten Fachgruppe „Kultur“ der EuRegio Salzburg–Berchtesgadener Land–Traunstein. Dazu zählen grenzüberschreitende Ausstellungen, wie jene über die „Heiligen Gräber“, die 2003 in Salzburg und Traunstein veranstaltet wurde, ein gemeinsamer Museumsführer für diese Region, Veranstaltungen für Volksmusikgruppen und Mundartautoren von hüben und drüben, die begonnene Dokumentation der Mundarten in diesem Bereich oder die groß angelegte gegenwärtige Erfassung der Flurdenkmäler als Zeugnisse der Volksfrömmigkeit in Salzburger und bayerischen Gemeinden. Die nun vom Referat Salzburger Volkskultur und dem Salzburger Landesinstitut für Volkskunde herausgegebene dritte CD-ROM zur Dokumentation von Lebens- und Arbeitswelten unter Mitarbeit von Autoren und Gewährsleuten diesseits und jenseits von Saalach und Salzach mag – soweit ich es sehe – als einzigartiges Beispiel innerhalb der vielen Grenzregionen gelten.

Eine alljährliche gemeinsame Tagung mit volkskundlichen Themenschwerpunkten wäre wünschenswert, um Forschungsergebnisse zu diskutieren und wirksam werden zu lassen für eine lebendige regionale Kulturpflege im salzburgisch-bayerischen Grenzraum. Es sei daran erinnert, dass es in den 1920er-Jahren schon so etwas gab mit den „Heimattagen des Inn-Salzachgaues“ – Veranstaltungen, bei denen sich ausgewiesene Wissenschaftler mit dem Kulturraum von Innsbruck über Salzburg bis Passau befassten.

Wie schätzen Sie die Rolle der Heimatpflege Bayerns als Teilaspekt der bayerischen Identität ein?

Heimatpflege ist regionale Kulturpflege. Die Zukunft und Wirksamkeit des kulturellen und historischen Erbes unseres Landes hängt in hohem Maße davon ab, wie diese materiellen und immateriellen Werte im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sind und von einer breiten Öffentlichkeit mitgetragen werden. Nur wenn sich der Mensch mit dem kulturellen Erbe identifiziert, wird er seine Umwelt auch verantwortungsbewusst gestalten. Denn zur Identifikation des Menschen mit seinem Lebensraum tragen die Kenntnis und das Vertrautsein mit der natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart der Um- und Lebenswelt ganz wesentlich bei. Dazu zählen sowohl die naturräumlichen Gegebenheiten, die gewachsenen Strukturen des Stadt- und Siedlungsbildes, die ortsbildprägenden Bauten als auch die Kunst- und Kleindenkmäler als Ausdruck regionalen bau- und kunsthandwerklichen Schaffens der Vergangenheit und Gegenwart. Diese Gegebenheiten lassen in ihrer Wechselwirkung nicht nur die geistliche, geschichtliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung eines Lebensraumes nachvollziehen, sondern stellen für den Menschen materielle Identifikationsmerkmale dar. Zu den immateriellen Identitäten zählen Verhaltensformen und die gemeinschaftliche Anteilnahme an Äußerungen, die sehr ungenügend mit Tradition und Brauchtum umschrieben werden: die Unterbrechung des Alltags durch Unalltägliches, durch jahreszeitlich bestimmte Feste und wiederkehrende Anlässe religiöser oder profaner Bestimmung, die den Einzelnen zum gemeinschaftlichen Tun auffordert, in die Gemeinschaft einbindet oder daran teilhaben lässt und damit ein Zusammengehörigkeitsgefühl schafft. Mitbestimmend für die Identifizierung des Menschen mit seinem Lebensraum, für ein erlebtes, erfahrbares Heimatbewusstsein sind Brauchtum, Sprache, Tracht, Volksmusik und Volkslied, aber auch gemeinschaftliche kulturelle Aktivitäten.

Tradition, Überlieferung und Althergebrachtes – wie immer es auch bezeichnet werden mag – schließen eine sinnvolle Weiterentwicklung und neue Formen des gemeinschaftlichen Handelns keineswegs aus. Denn wahre Tradition bedeutet nicht die Festschreibung eines historischen Erscheinungsbildes, nicht Uniformität und Unwandelbarkeit, sondern dynamische Entwicklung, scheidet Bleibendes von Vergänglichem, lebt von der Abkehr überholter und vom Zugewinn neuer Sinngebung. In diesem Sinne bemüht sich die Heimatpflege in Bayern, ein breites öffentliches Bewusstsein für das regionale kulturelle Erbe zu schaffen und zu vertiefen und damit zur Identifizierung der Menschen mit ihrem Lebensraum beizutragen.

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