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Ausbildung und Arbeitswelt

„Schöne heile Welt“ & „Gute alte Zeit“? (Elisabeth Bockhorn)

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Der „Kanon der Volkskunde“ – was ist das?

Unter „Kanon“ versteht man im Allgemeinen eine Regel, Richtschnur, einen Leitfaden. Das Wort an sich kommt aus dem Griechischen und Lateinischen. Der „volkskundliche Kanon“ ist eine Themenliste, die – im Laufe der Zeit entstanden und gewachsen – die wesentlichen Kernbereiche, die Leitthemen des Faches festlegt. Einen guten Einblick, worum es sich dabei handelt, bieten etwa die Gliederungen der Internationalen und der Österreichischen Volkskundlichen Bibliografie.[225]

Vergleicht man nun die Inhaltsverzeichnisse der Bände seit dem Bestehen dieser Reihen, so kann man in den letzten Jahrzehnten unschwer den Wandel bzw. die Erweiterung jener Leitthemen ablesen (z. B. Sprachinselforschung: Ethnizität; Brauchtum: Brauch, Fest, Freizeit).

Die Veränderungen ergaben sich durch die Erkenntnis, dass jede Gesellschaft einem steten sozialen und kulturellen Wandel unterliegt und Wissenschafter/innen, die sich mit sozio-kulturellen Prozessen befassen, ihre Forschungsschwerpunkte danach auszurichten haben – was sich dann in neuen Problemen, in geänderten Themenstellungen niederschlägt und den einst (und in der Begriffswahl noch immer) starren Kanon relativiert.

Die Volkskunde – ein alter (Trachten-)Hut?

Die Volkskunde ist zwar eine relativ junge Wissenschaft (Institute entstanden kurz nach 1900), ihre Leitthemen und ihre Grundhaltung jedoch reichen bis in die Romantik (18. Jahrhundert) zurück. Relikte davon zeigen sich etwa in einer zum Teil irrational geführten Argumentations- und Vorgangsweise, in einem bildungsbürgerlichen, romantisierenden Blick auf eine erfundene „heile“ Welt am Land und einer kulturpessimistisch gefärbten Ablehnung städtischen Lebens.

Hilfreich für eine solch ideologische Sichtweise erwiesen sich Beständigkeit und historische Tiefe vermittelnde (aus heutiger Sicht wissenschaftlich unpräzise) Begriffe wie „Volk“ und „Volkstum“,[226] „Stamm“ und „Gemeinschaft“, die nahezu ausschließlich dem ländlichen Bereich zugeordnet wurden und ebenso ausschließlich positiv besetzt waren. Während der NS-Zeit kam dann noch der Terminus „Rasse“ hinzu.

Volkskunde, „Deutsche Volkskunde“ war somit eine überwiegend auf die Vergangenheit bezogene Landmenschenkunde, die, weil scheinbar germanische Kontinuität und arisch-kulturelle Überlegenheit nachweisend, sich bestens vor einen ideologischen Karren spannen ließ.

Vom „Urquell“ zur Gestaltung durch die Menschen

Die volkskundlichen Forschungen kreisten noch lange nach 1945 um altbekannte Themen wie Brauch und Sitte, Märchen und Sage, Volkslied und Volkstanz, Nahrung und Kleidung, Haus und Siedlung – all dies überwiegend im ländlichen Bereich. Das Interesse an Kontinuität (im Sinne von Urquell-Theorien) und Tradition war stärker als das an gesellschaftlichem und kulturellem Wandel; erst ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzte verstärkt eine fachinterne Diskussion ein, die zur Kritik des bisherigen Kanons, zur Änderung und Erweiterung der Kernthemen und zur Entwicklung fachspezifischer wissenschaftlicher Theorien und Methoden führte. Das äußerte sich auch in erweiterten methodischen Zugängen, in neuen Frage- und Problemstellungen, in der Beschäftigung mit Kulturtheorien. Soziokultureller Wandel, Arbeiterschaft, Städte, deren Bewohner und Lebensweisen rückten unter anderem als Themen in den Vordergrund.

„Altbekanntes“ wird auch gegenwärtig noch erforscht, jedoch anhand einer geänderten Fragestellung. So gehört etwa das Thema „Kleidung“ durchaus zum traditionellen Fachkanon, allerdings verstand man früher darunter nur die ländliche Variante, die so genannte „Tracht“. Gegenwärtig interessieren Kleidung und ihre funktionellen Aspekte, Träger, Trägerinnen und Kleidungsformen (zu welchen Anlässen, aus welchen Gründen ...), der Einfluss der Mode, Accessoires usw.

Weitere Themen, die Entwicklung und Gegenwartsnähe der Volkskunde dokumentieren, sind, um nur einige Beispiele zu nennen: Migrationsbewegungen, Lebensalter- und Geschlechterfragen, Arbeits-, Arbeiter- und Angestelltenkultur, Freizeitverhalten, Urlaub und Tourismus, Medien und Kommunikation, Hygiene und Sexualität u. v. a. m.

Die Volkskunde und die Pädagogik

Die Anfänge von Überlegungen, volkskundliche Inhalte im Unterricht zu vermitteln, reichen im deutschen Sprachraum bis ins 19. Jahrhundert zurück. Verschiedene gesellschaftspolitische Richtungen wollten, besonders der städtischen Jugend, Einblick in die für sie unbekannte, als gut/besser, gesund und ehrlich erachtete Welt auf dem Land bieten.

Zumindest theoretisch war klar, dass das, was Schüler/innen lernen sollen, Lehrer/innen bereits wissen müssen. Deshalb war man sich der Tatsache bewusst, dass es einer speziellen Lehrerausbildung auf diesem Gebiet bedurfte.

Als Unterrichtsziel galt, moralisierend auf die Schüler einzuwirken, die Vorstellung dieser von den Wissenschaftern erfundenen „heilen Welt“ am Land aufrechtzuerhalten, zu würdigen, vor „schädlichen Neuerungen“ (in den Städten, durch Industrie und neue politische Parteien) zu warnen. Dementsprechend war auch die Lehrerausbildung ausgerichtet, auch wenn die Volkskunde (die für die vermittelten Inhalte zumindest teilweise verantwortlich zeichnete) als Ausbildungszweig nur ansatzweise eingerichtet werden konnte.

Die Volkskunde, ihr „Kanon“ und die Pädagogik

In Österreich gelang die Umsetzung dieser Bildungsideen (Volkskunde im Unterricht) im Bereich des bäuerlichen Lehrer/innen-, Fort- und Volksbildungswesens. Dass hierzulande auch die Römisch-Katholische Kirche daran maßgeblich beteiligt war, ist verständlich – war und ist doch die Verbindung zwischen Religion und Landbevölkerung eine durchaus enge. Dass damals gesellschaftliche Veränderungen oder gar Emanzipation unterbäuerlicher Schichten weder im Interesse der Amtskirche noch der Schulbehörden lagen, bedarf keiner weiteren Erläuterung, erklärt aber die erzkonservative Grundhaltung des nicht nur volkskundlichen Unterrichts.

Erste Kurse, in denen künftige Lehrer/innen mit volkskundlichen Inhalten vertraut gemacht wurden, fanden in der Steiermark unter der Leitung sowohl eines Fach- als auch eines Kirchenvertreters ab dem Schuljahr 1916/17 statt. Wenig später setzte ein entsprechender Kursbetrieb in St. Martin bei Graz ein, der wiederum für Lehrkräfte konzipiert war. Der Unterricht, speziell für Personen, die aus dem ländlichen Raum stammten bzw. in ihm wirkten, wurde getrenntgeschlechtlich abgehalten – ein Zustand, der in Nachfolgeinstitutionen noch bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts andauerte. Bezeichnend war auch, dass Lehramtskandidatinnen früher mit volkskundlichen Inhalten konfrontiert wurden als männliche Kursteilnehmer, was berechtigte Rückschlüsse auf die Lehrinhalte und Intentionen des Unterrichtes zulässt.

Während des Zweiten Weltkrieges gab es eine Unterbrechung in der Lehrerausbildung; erst danach wurde der volkskundliche Kursbetrieb in St. Martin (ganz im schon bisher gepflegten und traditionellen Sinne) wieder aufgenommen und bis in die 60er-Jahre fortgesetzt.

Die „Volkskunde“ als Lehrfach

Bereits im Jahre 1952 war es im Zuge des „geistigen Wiederaufbaus“ Österreichs zur Gründung einer Bildungsanstalt gekommen, die in Österreich einmalig war und es auch blieb: es wurde in Wien/Ober-St. Veit eine Liegenschaft erworben, die eine Heimstätte für die pädagogische Ausbildung von Lehrer/inne/n und Berater/inne/n im Bereich der Land- und Forstwirtschaft bieten sollte. Dass an einer derartigen Stätte Volkskunde in der herkömmlichen Form einen Fixplatz hatte, war selbstverständlich – das für den ländlichen Raum gedachte und ausschließlich an ihm orientierte Unterrichtsfach hieß lange Zeit, solcherart volkskundliches Wissen auch mit einer erwünschten Praxis verbindend, „Volkskunde und Volksbildung“.

Die Ausbildungsdauer wurde von anfänglichem Kurz- und Kursbetrieb auf einen zweisemestrigen, getrenntgeschlechtlich geführten Lehrgang umgestellt. Ab 1989 wurde der Unterricht koedukativ (für beide Geschlechter) geführt und auf vier Semester erweitert. Ab diesem Zeitpunkt hieß der Unterrichtsgegenstand nur noch „Volkskunde“ (das Wort Volksbildung war auf dringendes Anraten volkskundlicher Fachvertreter weggelassen worden). Ab dem Wintersemester 2001/02 fand eine neuerliche Veränderung statt: aus vier Semestern Unterricht wurden sechs; der Name der Lehranstalt wurde von „Land- und forstwirtschaftliche berufspädagogische Akademie“ auf „Agrarpädagogische Akademie“ geändert[227] Und auch das Lehrfach „Volkskunde“ gibt es unter dieser Bezeichnung nicht mehr: aus ihm wurde „Kultur und Entwicklung im ländlichen Raum“ (eine ministerielle Wortschöpfung).

Eine „Landmenschenkunde“?

Die volkskundlichen Lehrinhalte an der „Agrarpädagogischen Akademie“ haben sich im Laufe der Zeit geändert. Bekannte volkskundliche Kanonthemen werden allerdings – unter geänderter Frage- und Problemstellung – weiterhin aufgearbeitet und vermittelt. Nicht geändert hat sich allerdings die Zielgruppe, da es sich bei den Lehramtskandidat/inn/en landwirtschaftlicher Schulen um Schüler/innen handelt, die aus dem ländlichen Raum kommen und berufsbedingt wieder in diesen zurückkehren.

Da die „Agrarpädagogische Akademie“, an welcher Volkskundliches gelehrt wird, in Österreich einzigartig ist, ist die Verquickung dieser Wissenschaft mit dem agrarischen Bereich, den Bäuerinnen und Bauern, weiterhin gegeben. Das ist in diesem speziellen Falle zwar einsichtig, lässt allerdings Rückschlüsse auf die Einschätzung der Volkskunde in den zuständigen Ministerien (diese Akademie untersteht zwei Ministerien!) schließen: angesichts der Tatsache, dass die Volkskunde in der übrigen Lehrer/innen/ausbildung, an den Pädagogischen Akademien trotz vieler Interventionen nicht (oder nur äußerst selten durch Lehraufträge) vertreten ist, scheint sie in den Köpfen (und Herzen?) der Ministerialbürokratie eine „Landmenschenkunde“ geblieben zu sein.



[227] Anm. der Redaktion: Mit Oktober 2007 ging die einstige „Agrarpädaogische Akademie“ in die „Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik“ über.

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